MITFÜHLENDE BEOBACHTUNG
: Vögel im Winter

Die Taube sah aus, als müsse sie jeden Moment sterben

Das erste Mal, als ich es bemerkte, war beim Arzt. Es war der Donnerstag des ersten Schnees und ich blickte aus dem Wartezimmer auf die Karl-Marx-Straße. Direkt unter mir war das Taubenkarussell, eine sich behäbig drehende Litfaßsäule, auf der sonst immer, wirklich immer, mindestens ein Dutzend Tauben saßen und sich das Rathaus Neukölln anschauten oder die Passanten oder schliefen oder was Tauben halt so machen – nur heute nicht.

Auch die benachbarte Ampelanlage war leer. Das verstörte mich nachhaltig. Es musste am Schnee liegen, so viel war klar. Sorgt er dafür, dass die Tauben verschwinden? Verklebt er ihr Gefieder? Verätzt er ihre Lungen? Sind Tauben und Schnee am Ende aus dem gleichen Material und stellen nur verschiedene Aggregatzustände dar?

Ich wurde dann durch einen Streit zwischen dem Arztpersonal und einer Patientin mit a) Migrationshintergrund und b) hyperaktivem Kind, bei dem am Ende die Polizei kommen musste und allen Ernstes das Schimpfwort „Kartoffel“ von der einen sowie Verweise auf Sarrazins Thesen von der anderen Seite ins Feld geführt wurden, so nachhaltig verstört und abgelenkt, dass ich erst Tage später bei einem Schneespaziergang das Fehlen der Tauben wieder bemerkte.

Seitdem halte ich regelmäßig Ausschau. Enten, Schwäne, Blesshühner, Blaumeisen, sie alle sind noch da, selbst Spatzen trifft man ab und zu. Tauben sah ich seitdem genau drei: die erste am Rand des Kottbusser Damms. Sie schubberte über den gestreuten Gehweg und sah so aus, als müsse sie jeden Moment sterben. Die zweite befand sich auf dem U 8-Bahnsteig im Bahnhof Alexanderplatz, war putzmunter und hatte vom Winter vermutlich noch nichts mitbekommen. Die dritte aber, die war schneeweiß.

Das war es also: Im Winter wechseln die Tauben einfach ihr Gefieder, zu Tarnungszwecken. Diese durchtriebenen Dinger!

MICHAEL BRAKE