Menschenmaterial und Einarm-Fibel

GESCHICHTE Die Ausstellung „Der Erste Weltkrieg“ in Berlin zeigt nüchtern die entfesselte Kriegsgewalt

Dem Deutschen Reich ging es darum, das Gleichgewicht der Mächte zu verschieben

VON ULRICH GUTMAIR

Friedrich Engels schrieb 1887 in London: „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet.“

Das Zitat hängt im Eingangsbereich der eben eröffneten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin und ist so erhellend wie irreführend. Erhellend, weil es zeigt, dass die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts kein ungeahnter Gewaltausbruch war. „Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt“, heißt es bei Engels weiter.

Irreführend, weil die Ausstellung keine thesenstarke, neue Interpretation des Ersten Weltkriegs, seiner Ursachen und Folgen liefern möchte, sondern ganz bescheiden zeigen will, wie die entfesselte Kriegsgewalt im Detail aussah. Im Detail aber zeigen sich einige Facetten dieses Kriegs, die auf grausame Art wegweisend für das 20. Jahrhundert waren.

„Der Erste Weltkrieg. 1914–1918“ präsentiert in 17 Abteilungen 14 Orte, an denen beispielhaft die wesentlichen Themen verhandelt werden. 500 Exponate haben die Ausstellungsmacher Juliane Haubold-Stolle und Andreas Mix dafür versammelt. Viele Exponate stammen aus den Beständen des Museums, ebenso viele sind Leihgaben aus der ganzen Welt, etwa aus russischen Sammlungen. Multimediaguides für Erwachsene und Jugendliche erzählen die Geschichten hinter den Objekten.

Manche sind groß, wie die Feldküche, die mitten im Parcours steht. Manche sind klein und unscheinbar, wie die „Einarm-Fibel“ von Eberhard Freiherr von Künssberg, die verstümmelten Soldaten etwa demonstrierte, wie man sich die Fingernägel abknipst, indem man den Knipser zwischen die Oberschenkel klemmt.

Der kaputte Helm Ernst Jüngers ist ebenso zu sehen wie zwei seiner Kriegstagebücher. Eine große Fototapete der zerstörten Kirche Notre Dame de Albert an der Somme. Das anatomische Modell eines weiblichen Unterleibs mit Syphilis. Eine Ausgabe von El Dschihad, der in Berlin gedruckten „Zeitung für die muhammedanischen Kriegsgefangenen“. Ein Kinderbuch, das General Hindenburg als „großen deutschen Held“ verehrt, was sich auf „über alles in der Welt“ reimt. Alle diese Dinge sprechen für sich, sie werden durch ergänzende Texte nur in knapper Form erklärt.

Dieses Ausstellungskonzept funktioniert gut. Wenn aber etwa das berühmte Gemälde von Hindenburg und Ludendorff am Kartentisch mit dem Hinweis versehen wird, darauf sei der „arbeitssame Taktiker Ludendorff“ in Szene gesetzt, wünscht man sich den Nebensatz dazu, dass dieser Taktiker auch der Vordenker des Vernichtungskriegs war, den seine Nachfolger später ins Werk setzten.

Zwei Abteilungen widmen sich einem Kapitel dieses Krieges, das erst in den vergangenen Jahren Beachtung gefunden hat. Fotografien zeigen die bürokratische Erfassung der Bevölkerung im Osten, die Flüchtlingstrecks, die Deportationen und die massenhaften Hinrichtungen von Spionen, zu denen man auch Frauen und Kinder zählte. Der Befehl des Kreishauptmanns Hundhausen in Wolkowysk vom 12. März 1917, dass sich arbeitslose Handwerker bei den deutschen Militärbehörden zu melden haben, wurde auf Russisch und Jiddisch übersetzt.

Der zynische Umgang mit „Menschenmaterial“ betrifft in diesem modernen Krieg nicht nur die Millionen von Soldaten, die man auf den Schlachtfeldern an der Westfront verheizte. Er zeigte sich auch am Umgang der Kriegsparteien mit der Zivilbevölkerung, in den besetzten wie den eigenen Gebieten. Der Oberstadthauptmann Roth von Pancsova kündigte am 26. August 1914 an, dass der für sein Gebiet zuständige Armeeoberinspektor im Fall von Unruhen droht, auch serbische Ortschaften diesseits der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze niederzubrennen sowie Schuldige und Geiseln zu „iustifizieren“.

Das ist nicht der Erste Weltkrieg, wie wir ihn kennen. Hier werden Vorgehensweisen deutlich, die man, wenn auch in weitaus stärkerem Ausmaß und in radikalisierter Form, mit dem Zweiten Weltkrieg verbindet. Auch das ist eine Setzung.

Alan Kramer schätzt an der Ausstellung ihre Nüchternheit. In seiner Eröffnungsrede am Mittwoch wies der Historiker auf zwei nicht mehr selbstverständliche Punkte hin: Zum einen habe kein Automatismus in diesen Krieg geführt. Vielmehr zeigten Dokumente aus sechs Ländern, dass die Verantwortlichen nicht wie „Schlafwandler“ in den Krieg „schlitterten“ – klarer kann man die Thesen Christopher Clarks aus seinem Buch „Die Schlafwandler“ nicht zurückweisen.

Österreich-Ungarn wollte Auflösungserscheinungen ein für alle Mal mit harter Hand entgegentreten, das Deutsche Reich verstand diesen Krieg nicht nur als Präventivkrieg, sagt Kramer, Professor am Trinity College in Dublin. Im Gegensatz zu seinen Kriegsgegnern, die um Wahrung des Status quo bemüht waren, sei es dem Reich dezidiert darum gegangen, das Gleichgewicht der Mächte zu verschieben.

„Und endlich ist kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg“, schrieb Friedrich Engels, „und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit.“

■ Bis 30. November, täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Katalog „Der Erste Weltkrieg in 100 Objekten“ umfasst 224 Seiten mit 100 farbigen Abbildungen und kostet 24,95 Euro