Nicht mal eine Helena

In Busonis „Doktor Faust“ ist mehr Wissen als Leben in der Musik gespeichert. Daniel Barenboim schleudert sie wie ein Feuerwerk in den Saal der Staatsoper und macht es den Sängern schwer

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Daniel Barenboim hat den Brauch eingeführt, zum Schlussapplaus das gesamte Orchester auf die Bühne zu holen. Zu Recht in diesem Fall, denn in dieser Aufführung ist es tatsächlich die Hauptperson. Das liegt nicht allein an Barenboims Dirigierkunst, sondern auch an der Konstruktion des „Doktor Faust“, den Busoni schon „Dichtung für Musik“ nannte. Der Komponist (und Klaviervirtuose), der seine letzten Jahre in Berlin verbrachte und hier begraben ist, war nie nur Musiker, sondern auch fleißig publizierender Theoretiker. Lange vor der posthumen Uraufführung 1925 in Dresden erschien der Aufsatz „Über die Partitur des Doktor Faust“, in dem er die sich über Jahre hinziehende Entstehung des Librettos wie der Komposition reflektiert.

Noch immer trägt die von einem seiner Schüler fertiggestellte Endfassung die Züge eines musikästhetischen Traktats. Möglichst weit entfernt vom erdrückenden Vorbild Goethes nimmt Busoni das alte Puppenspiel um den Gelehrten, der sich dem Teufel verschreibt, nur zum Anlass, eine Theorie zu erproben. Die Partitur ist Musik über Musik, die mit einem gewaltigen Zeitsprung gleich in der Postmoderne ankommt. Die melodische und harmonische Kühnheit eines Schönberg war nicht Busonis Sache – alles klingt, als habe man es schon gehört, nur nicht in diesem neuen Kontext, in dem alles mit allem harmonisch zu verschmelzen scheint und doch nur immer auf sich selbst verweist.

Einiges an akademischem Staub ließe sich in diesen ausgedachten Noten und Zitaten schon finden, aber Barenboim bläst ihn mit hemmungsloser Freude am sinnlichen, durchaus auch mal rauen Klang hinweg. Seine Staatskapelle schleudert den Bilderbogen musikalischer Traditionen von Bach bis zur Romantik wie ein funkelndes und krachendes Feuerwerk in den Saal. Das ist so unterhaltsam und fesselnd virtuos gespielt, dass es Peter Mussbachs Inszenierung ein wenig schwer hat. Der Hausherr hat sie 1999 für die Salzburger Festspiele entwickelt, und für seine Staatsoper aufgewärmt. Danach sieht sie auch aus, Fausts Welt ist eine lose Folge von Traumräumen, die sich gelegentlich ins Kosmische weiten und sich am Ende in einer winterlichen Einöde verlieren.

Keine Wittenberger Gelehrtenstube also, sondern die unbehauste Wüste für einen keineswegs tragischen, sondern vom Leben gelangweilten Mann, der sich seinen Allmachtsfantasien hingibt. „Genie“ wünscht er sich vom Teufel vor allem, und man versteht sehr gut, dass das auch Busonis Wunsch war. Man hört es ständig in der Musik, die zu wissen scheint, was genial wäre, es aber nicht selbst ist. Immer nur um sich selbst kreisend, leidet auch Mussbachs Faust an diesem Mangel. Mephisto gleicht Faust aufs Haar, auch er ist nur ein Teil von ihm und schafft es nicht einmal, eine richtige Helena herbeizuzaubern. Stattdessen muss Roman Trekel in der Titelrolle ein riesiges Auge auf Erich Wonders Bühnenrückwand ansingen, das ins leere Weite blickt. Er hat es noch schwerer als Mussbach.

Barenboim denkt in seinem Klangrausch gar nicht daran, die Hauptrolle jemals an einen Sänger abzugeben, aber daran allein liegt es nicht. Busoni ist für die Gesangsstimmen deutlich weniger eingefallen als für das Orchester. Die Erfindung großer Melodien war nicht seine Stärke, daher muss nicht nur Trekel, sondern auch Jürgen Müller als Mephisto mit wenigen deklamatorischen Phrasen zurechtkommen. Oft verschwinden sie unhörbar im Tumult des Orchesters. Mussbach gibt ihnen keine Gelegenheit, über das undramatisch konstruierte Puppenspiel hinauszuwachsen, das sich Busoni ja tatsächlich vorgestellt haben mag.

Carola Höhn, die von Faust verführte und verratene Herzogin von Parma, bringt mit ihrer großen Arie dennoch sängerischen Glanz auf die Bühne, und wenn am Ende die orchestrale Energie nachlässt, schaffen es auch Trekels und Müllers Stimmen, aus dem Schatten herauszutreten. Aber da ist Mephisto nur noch ein Nachtwächter und Faust müde von seinen Männerfantasien. Er stirbt, und Mephisto fragt: „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ Ja, das ist er, aber dann holt Barenboim seine Kappelle auf die Bühne, und alles ist gut. Kein einziges Premierenbuh.

Nächste Vorstellungen: 6., 12., 15. 12. Staatsoper Unter den Linden