„Ich bin ein Kaninchen“

FESTIVAL Radhouane El Meddebs „Sous leurs pieds, le paradis“ oder Kim Nobles „You Are Not Alone“ – Zumutungen und Entdeckungen vom „Theater der Welt“ in Mannheim

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Nach sieben Tagen Theater, Performance und Tanz auf dem Festival Theater der Welt in Mannheim, ist man ein wenig benommen und berauscht. Es fällt gar nicht mehr leicht, die Eindrücke zu sortieren. Da spielt es für Performer aus São Paulo und London eine Rolle, warum man als Künstler kaum dem entspricht, was sich die Eltern von einem wünschten. Da wird die Baustelle der eigenen Identität von vielen Seiten bespielt oder die Konstruktion des Geschlechts zur Disposition gestellt.

Auffällig war in jedem Fall die Inszenierung „Sous leurs pieds, le paradis“ von Radhouane El Meddeb, ein tunesischer Choregraf, der in Frankreich lebt. Es ist kein junger und auch nicht ganz schlanker Mann, der sich mit großer Sehnsucht nach Intensität und Emotionalität, auf der Bühne auch sehr verletzbar macht. In einem Lied der berühmten ägyptischen Sängerin Oum Kalthoum sucht er sich selbst. Man hört die Einspielung eines Konzerts dieser außergewöhnlichen und souveränen Sängerin, während er mit sparsamen Gesten in ihre Stimme einzutauchen versucht, in etwas zu verwandeln, was ihrem episch mäandernder Gesang entsprechen könnte. Viele der Bewegungen, die zunächst abstrakt erscheinen, lassen sich am Ende wie die Umrahmung eines Herzens mit den Händen lesen.

„Ich bin Oum Kalthoum“, bis zu dieser Behauptung reicht El Meddebs Tanz nicht, es bleibt ein Sehnen dorthin. „Ich bin Sarah“ ist dagegen eine Behauptung von Kim Noble. Gern verdrängen möchte man die Begegnung mit diesem Bad Guy der britischen Performance-Szene. Aber er lässt sich nicht wegdrücken, nicht nur, weil er im Hotel, in dem ich für den Festivalbesuch wohne, jeden Morgen im Frühstücksraum auftaucht, sondern auch, weil jeder fragt, habt ihr Kim Noble gesehen?

Körper aus Hühnerfleisch

Seine Geschichte „You Are Not Alone“ erzählt von der Einsamkeit zwischen Internetkontakten, Super- und Baumärkten. Ein projizierter Bildschirm beherrscht die Bühne, schneller als der Performer reden kann, wechseln die Bilder. Sein Weg, Nähe zu suchen, ist übergriffig, er verfolgt Nachbarn mit Kamera und Mikrofon, bastelt sich für einen Netzpartner weibliche Körperteile aus Hühnerfleisch – Achtung, Großaufnahme! – und drängt Zuschauer in eine intime Zuhörerpositionen.

Anfangs lachen die Zuschauer noch, weil vieles sehr skurril ist, eine böse Karikatur von Dienstleistungsgesellschaft und Anpassungsdruck. Mehr und mehr aber werden seine Grenzüberschreitungen zu Zumutungen, je heftiger seine Figur kämpft, ihre Isolation zu überwinden, je trauriger die Geschichte wird, desto mehr nutzt der Performer seine Macht über die Zuschauer.

Es ist die Schnittstelle zwischen dem Leben der Körper und der Bilder im Internet, an der Nobles Figur seine Schlacht um Zuwendung und um die Ankunft in der Wirklichkeit verliert. Die Öffentlichkeit des Privaten wird bei ihm zu einem Exzess, der seine eigene, lebenverschlingende Dynamik gebiert.

Einen ganz anderen Gebrauch vom Netz machte das großartige Tanzstück „Crackz“ von Bruno Beltrão und seiner Grupo de Rua aus São Paulo. Das Stück ist auch eine Hommage an die Offenheit des Netzes, die Verfügbarkeit von Material, Beltrão nutzte Tanzvidoes und Clips als Ausgangspunkt. Der Tanz aber übersetzt alles in die Gegenwart der Körper, der gemeinsamen Präsenz, des Schwarmseins. Die Selbstbehauptungsfiguren der einzelnen Tänze und Clips werden in große Bögen, Zirkel und Bahnen übersetzt. Oft erscheinen die Tänzer als Schatten, eingetaucht in eine dunkle Melancholie.

Die Energie des HipHop, die Struktur des Battles werden überführt in ein größeres Gewebe aus Kraft, Leichtigkeit und Eleganz. Das Licht oder vielmehr die Dunkelheit auf der Bühne stellen eine Verbindung zu den Orten der Herkunft der Tänze, von Straßen und urbanen Brachen wieder her.

Irgendwann erinnert die Gruppe, wenn sie mit tiefen Schritten, in beinahe kriegerischer Haltung auf das Publikum zu rückt, auch an atavistische Bilder, Potenziale der Bedrohung, die aber gebannt bleiben im Ritual des gemeinsamen Tanzes.

Aus São Paulo kommt auch Cia. Hiato, ein Theaterkollektiv um den Regisseur Leonardo Moreira. „Ich wäre gern Frida Kahlo“, damit spielte Luciana Paes, „ich bin ein Kaninchen“ war die Ansage, mit der Thiago Amaral in seine Selbsterkundung einstieg.

Ihr Stück „Ficção/Fiktion“ besteht aus fünf einstündigen Monologen, die um Selbstentwürfe, elterliche Wunschbilder, Geschwisterkonkurrenz und künstlerische Vorbilder kreisen – und obwohl ein Großteil des Publikums auf das Lesen der Untertitel in Deutsch und Englisch angewiesen war, fiel das Aufmerksambleiben nicht schwer.

So gern folgte man ihren Kämpfen mit obsessiven Müttern und schweigenden Vätern und deren erstaunlich großen Einfluss auf ihre Selbstverfertigung als Künstler. Nicht zuletzt, weil sich dabei aus dem Umgang des Schauspielers mit seiner Rolle auch immer wieder ein allgemeines Modell herausschälte, wie man Erwartungen begegnet und die eigene Identität im Spiegel der anderen betrachtet. Dass auch Authentizität etwas Hergestelltes ist, beleuchtete die Theatertruppe Cia. Hiato dabei mit feinen Seitenhieben gegen die Sucht, alles zu dokumentieren und beweisen.