BEIM MILCHKAUFEN
: Überwachter Überfall

Sie tauchen vor der Wursttheke auf und veranstalten Hektik

Der Kiez droht der Gentrifizierung zum Opfer zu fallen, und dann das: Die Milch ist aus. Um einen Latte macchiato aufschäumen zu können, bleibt mir nichts anderes übrig, als am frühen Morgen Edeka aufzusuchen, was ich sonst zu vermeiden suche, weil um diese Zeit alle Berliner schlechte Laune haben, die sie allerdings den restlichen Tag auch an ihrem Nächsten auslassen.

Der türkische Kassierer zeigt einer Kundin mit einer nur rudimentär funktionierenden Fernbedienung was auf der Überwachungskamera, die über der Kasse hängt. Dabei sagt er: „Da … gleich … na, das muss doch jetzt kommen … nein, aber … wo ist das denn?“ Mir geht das ein wenig auf die Nerven, weil ich gerne zahlen und wieder in meine Höhle möchte. Die Frau betrachtet fasziniert den Bildschirm mit sechs verschiedenen Perspektiven. Plötzlich huschen zwei Jungs mit Kapuze in den Laden. Auf dem Bildschirm jetzt, nicht in echt. Also schon in echt, aber eben am Abend vorher kurz vor Ladenschluss. Sie tauchen vor der Wursttheke auf und veranstalten Hektik. Einer hat ein Messer, der andere eine Pistole, wie der Türke erklärt, weil man das nicht so genau sieht. Dann fliegt einer der Jungs aus dem Laden. Ein Kunde hat ihn rausgeworfen, und draußen „hat der Chef ihm noch eins übergebraten“, sagt der Türke.

„Ein Überfall?“, frage ich. „Ja ja, ein Überfall“, sagt der Kassierer begeistert. Ich hatte mir schon immer überlegt, zu was die Überwachungskameras gut sein sollen, denn ich würde darauf nicht mal meine Mutter erkennen, geschweige denn Sophia Loren. Jetzt weiß ich es: die Aufnahmen sind so was wie Urlaubsfotos. Im Unterschied zu denen machen die Überfallaufnahmen allerdings mehr her, auch wenn alles ganz schnell gegangen ist. Vielleicht ist der Kiez für eine anständige Gentrifizierung doch noch nicht reif, denke ich beim Milchaufschäumen.

KLAUS BITTERMANN