Das wollen wir von Ulla Schmidt

Immer mal wieder telefoniert Wilhelm Breitenbürger mit der Berliner Stadtreinigung. Er erinnert sie dann an das Selbstverständliche: ihren Auftrag, den Müll wegzuräumen, ihm sei es zu dreckig. Vor 15 Jahren hat er seine Einmann-Initiative gegen Müll gegründet – der Allgemeinmediziner und Naturheilkundler ist ein Einzelkämpfer mit Prinzipien.

Gestern wurde das mal wieder deutlich: Seine KollegInnen protestierten gegen die Gesundheitsreform, Breitenbürger nicht. „Alle wollen mehr, das ist nicht gerechtfertigt“, meint er. Dennoch, zehntausende Ärzte gingen auf die Straße. Aufgerufen hatten die Lobbyorganisationen im Gesundheitswesen – von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bis zum Bundesverband in der Praxis mitarbeitender Arztfrauen.

Alle fordern eine andere Bezahlung. Denn bisher werden niedergelassene Ärzte in Punkten bezahlt, deren Wert je nach Behandlungsort schwankt – in München sind sie mehr wert als in Berlin. Ab 2009 können die Niedergelassenen zwar überall die gleichen Preise abrechnen, doch die Politik schreibt ihnen weiter vor, bis zu welchem Betrag sie behandeln und verschreiben dürfen. Mit einem Bonus-Malus-System will Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) niedergelassene Ärzte künftig sogar stärker an die Kandare nehmen. Wer zu viel abrechnet, wird bestraft, wer sich zurückhält, mit Prämien belohnt.

Breitenbürger beteiligt sich nicht an den Protesten. „Ein niedergelassener Orthopäde verdient durchschnittlich 160.000 Euro pro Jahr, ein Röntgenarzt kommt auf 200.000 Euro.“ Klar, es gebe enorme Unterschiede. Doch gerade deshalb solle zuerst das Geld unter den Ärzten gerechter verteilt werden, ehe man anfange, einfach mehr zu fordern. Er respektiert Ulla Schmidt dafür, dass sie sich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen anlegt – dass sie es besser macht als die, das bezweifelt er.

Mit 2.300 Euro verdient Breitenbürger weniger als vor drei Jahren, aber immer noch mehr als die meisten seiner Patienten. „Ich komme gut über die Runden.“ Die Kosten für die Praxis sind gering, seine Sprechstundenhilfe geht um halb drei nach Hause. Das Mietshaus, in dem der Arzt praktiziert, ist eines der wenigen in der Straße, die nicht saniert sind, die Fassade ist grau von Abgasen, ein roter Sisalteppich dämpft das Knarren der ausgetretenen Treppenstufen.

Breitenbürger empfängt seine Patienten zu fest verabredeten Zeiten. 30 Minuten, so lange nimmt er sich für jeden Zeit. Das ist unwirtschaftlich, jedenfalls nach der Logik der Gebührenordnung. Durchschnittlich verbringen Kassenärzte drei bis zwölf Minuten mit jedem Patienten. Betritt der sein Sprechzimmer, kann Breitenbürger knapp 25 Euro verbuchen. Nach zehn Minuten sinkt der Stundensatz. Viele Ärzte versuchen deshalb, die Konsultation in kürzester Zeit durchzuziehen.

Breitenbürger nimmt sich eine halbe Stunde, er tut es aus Überzeugung. „In 25 Jahren ist es nicht gelungen, die sprechende Medizin zu stärken“, klagt er, dafür müsste er nach Zeit bezahlt werden. Stattdessen soll er ab 2009 nach Diagnosen abrechnen: je kranker der Patient, desto mehr Geld bekommt er. „Das fordert den kreativen Umgang mit den Diagnosen geradezu heraus.“

Er klickt zwei-, dreimal mit der Maus, auf dem Bildschirm erscheint eine Patientenakte: „Bronchitis, Bluthochdruck“ steht im linken Feld. „Deswegen kam der Patient zu mir.“ Im rechten Feld steht noch „Kniegelenkschmerzen“. „Darunter leidet er seit Jahren, aber deshalb war er heute nicht hier.“ Er zieht die Gelenkschmerzen mit der Maus nach links. „Wenn ich wollte, könnte ich das trotzdem abrechnen.“ Aber Breitenbürger hat ja Prinzipien.

ANNA LEHMANN

Morgen ist Heinz Glass im Knast. Dann spielen seine Häftlinge. Glass unterrichtet sie jede Woche auf der Gitarre. Viel Geld verdient er damit nicht, aber es macht Spaß. „Das sind echt arme Schweine.“ Glass ist freiberuflicher Musiker, er ist 54 Jahre und sieht Keith Richards ähnlich. Er spielt, was verlangt wird, meist Rock und Blues. Mal läuft’s gut, mal weniger. Vor vier Jahren, als seine Tochter geboren wurde, lief’s richtig gut. Zurzeit läuft es nicht so gut. Wegen des Unfalls.

Er war mit der Bluesband Monokel auf Tour. Nach einem Konzert verlor der Fahrer die Kontrolle über den Bus. Glass musste ins Krankenhaus, alle weiteren Konzerte wurden abgesagt, 1.000 Euro Gage waren verloren, und Glass kann nun den Kopf nicht mehr richtig bewegen. Er ist zu Breitenbürger in die Praxis gekommen, um sich Massagen verschreiben zu lassen.

Glass’ Schwager ist auch Arzt, er kennt die Argumente gegen die Gesundheitsreform. Verstehen kann er sie nur bedingt. „Auf der einen Seite stöhnt er über Einschränkungen für bestimmte Leistungen und fühlt sich unterbezahlt“, andererseits lese man von Chefärzten, die eine Million pro Jahr verdienen. „Ich krieg das nicht zusammen: warum müssen die hundertmal mehr bekommen?“ Ganz traut Glass den protestierenden Ärzten nicht. Geht es ihnen wirklich um die Patienten oder nur um ihr Honorar?

Von Breitenbürger hat sich Glass ein paar Tage krankschreiben lassen, länger als eine Woche kann er sich nicht kurieren. Als Freiberufler bekommt er keinen Verdienstausfall. Doch er ist froh, dass er über die Künstlersozialkasse wenigstens gesetzlich versichert ist. „Das ist schon eine tolle Erfindung.“ Weil er Thrombose hat, muss er regelmäßig zum Arzt, sich checken lassen und das Rezept für seine Medikamente abholen. Für Arzneimittel zahlt er alle drei Monate 25 Euro zu. „Das krieg ich schon hin.“ Wenn’s mal schlecht läuft, zögert er den Arztbesuch raus.

Für die Gesundheitsreform interessiert er sich mäßig. Was er weiß, weiß er aus der Zeitung: dass es einen Fonds geben wird, dass einige Kassen mehr und andere weniger Geld bekommen werden. Und dass eine Zusatzprämie geplant ist.

Wenn 2009 der Gesundheitsfonds eingeführt wird, zahlen alle Versicherten einen einheitlichen Beitrag ein, die Kassen bekommen feste Beträge pro Versicherten zugeteilt, für krankere und ältere Mitglieder einen Zuschlag. Kommen sie mit dem Geld trotzdem nicht aus, können sie eine Zusatzprämie von ihren Mitgliedern fordern. Die Ortskrankenkassen klagen schon jetzt, dass sie gezwungen würden, die Kopfpauschale zu kassieren. Auch Heinz Glass stellt sich darauf ein. „Acht Euro, das wäre noch zu machen, da müsste man an anderer Stelle was abzwacken und ein bisschen mehr spielen“, überlegt er. Er kommt auf 1.500 bis 2.000 Euro im Monat.

Eigentlich hätte er von Ulla Schmidt erwartet, dass sie es Geringverdienern leichter macht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Nun ja, es gibt andere Lichtblicke. Er hat mit seiner Band endlich einen Plattenvertrag bekommen. Und vor zwei Wochen wurde seine zweite Tochter geboren. Sie heißt Felicia, „die Glückliche“.    ALE

Vor ein paar Jahren hat sie mal überlegt, ob sie wechselt: die gesetzliche Krankenversicherung verlässt und sich privat versichert. Da arbeitete Ute Schirmack noch als freiberufliche PR-Beraterin. Das wäre auch heute noch günstig für sie, sie ist Single, hat keine Kinder, keine chronischen Krankheiten, und mit 41 Jahren ist sie noch jung genug für die privaten Anbieter. Die wählen ihre Kunden nach Gesundheitszustand aus – je jünger und gesünder, desto günstiger ist die Prämie. Das soll auch nach der Gesundheitsreform so bleiben.

Ute Schirmack hat sich dann doch entschieden, in der Gesetzlichen zu bleiben. „Weil ich es eigentlich gut finde, dass es eine Solidargemeinschaft gibt.“ Doch wenn sie sich in ihrem Freundeskreis umschaut, stellt sie fest, dass sich das Gesundheitssystem in Richtung Zweiklassenmedizin entwickelt. „Eine Freundin ist schwere Rheumatikerin, aber glücklicherweise privat versichert“, erzählt sie. „So hat sie Zugang zu modernen Therapien, die sie als gesetzlich Versicherte nicht bekäme.“

Den Ärzteprotest unter dem Motto „Geiz macht krank“ unterstützt sie. „Also, ich habe volles Verständnis. Ich weiß, dass gerade die Hausärzte oft sehr, sehr viel Arbeit leisten, auch viel bürokratische neben ihrer medizinischen.“ Sie sehe es ja bei Wilhelm Breitenbürger, ihrem Hausarzt. Zu dem geht sie seit Jahren, seit sie aus dem Ruhrgebiet zum Studium nach Berlin kam.

In die Sprechstunde kommt sie wegen einer Bronchitis, „schon wieder“, sie braucht eine Krankschreibung und ein Rezept. Schirmack hat ein gutes Zahlengedächtnis: „32,40 Euro habe ich das letzte Mal in der Apotheke bezahlt.“ Für Hustensaft und Nasenspray. „Schön, dass ich es mir leisten kann, aber für jemanden, der wenig verdient, ist das schon ’ne Menge Holz.“ Wenn sie sich so in Berlin umsehe oder in Brandenburg, dann frage sie sich, wie manche Leute das bezahlen sollen.

Jetzt auch noch diese Zusatzprämie. Die Prämie können Kassen ab 2009 nehmen, wenn sie mit den zugewiesenen Pauschalen nicht auskommen. Ute Schirmack ist bei der Kaufmännischen Krankenkasse Halle versichert. Die Ersatzkrankenkasse steht unter den 250 Krankenkassen ganz gut da, ihre Mitglieder sind meist jung und gesund – also billig. Trotzdem ist Schirmack pessimistisch: „Ich bin garantiert unter denen, die den Zusatzbeitrag zahlen müssen. Bei so was habe ich immer Glück.“

Was sie besonders ärgert: „Man bezahlt eine zusätzliche Prämie, aber man bekommt keine zusätzliche Leistung.“ Schirmack arbeitet als Marketingleiterin, das hört man. Sie fordert, dass die Kunden bei der Gesundheitsreform im Mittelpunkt stehen sollten. „Die Patienten“, verbessert sie sich. „Es sollte nicht nur ums Geld gehen.“

Sie hätte von Ulla Schmidt stattdessen Optimierungen im Sinne des Kunden, des Patienten also, erwartet. „Ärzte sollten gepoolt werden, so wie in Polikliniken.“ Viele Ärzte auf einem Fleck, das erleichtere den Wissenstransfer und spare Untersuchungen. Außerdem: „Diese ewigen Wege, das nervt. Da fehlt ein Link zwischen Krankenhausärzten und den Niedergelassenen.“

Nicht dass Schirmack unbeweglich wäre. Seit einem Jahr hat sie einen festen Job in Frankfurt (Oder). Sie pendelt zwischen beiden Städten, zwischen Arbeit und Freizeit. Seitdem ist sie auch pflichtversichertes Mitglied der Solidargemeinschaft. Ein wenig fürchtet sich Ute Schirmack davor, irgendwann so eine abgehängte Kassenpatientin zu sein, Opfer gestrenger Rationierungen und Kürzungen. Aber wechseln kann sie zurzeit nicht. ALE