Kolumbianische Staatspedaleure

RADRENNEN Die Südamerikaner dominieren, angeführt von Sieger Nairo Quintana, den Giro d’Italia

„Ihr müsst nicht glauben, dass wir aus dem Wald kämen“

NAIRO QUINTANA, DER KOLUMBIANISCHE GIRO-D’ITALIA-SIEGER

TRIEST taz | Man lernt immer wieder etwas dazu beim Radfahren. Als ein US-amerikanischer Journalist den frischgebackenen Sieger des Giro d’Italia fragte, was dieser Sieg für ihn, der aus einem kleinen Dorf in Kolumbien komme, denn bedeute, nutzte Nairo Quintana prompt die Gelegenheit zur „Gringo“-Weiterbildung: „Ihr müsst nicht glauben, dass wir aus dem Wald kämen. Auch bei uns gibt es Städte, Zivilisation und Infrastruktur.“

Möglicherweise sogar eine bessere Infrastruktur als in Nordamerika, zumindest was die Förderung von Talenten aus armen Bevölkerungsschichten im Sport anbelangt. Die Breiten- und Spitzenförderung des kolumbianischen Sportministeriums sorgt seit einigen Jahren für Ergebnisse, die aufhorchen lassen. Zwei komplette Rennställe fördert ein dem Ministerium unterstehendes Institut. Der eine, der Nachwuchsrennstall „Colombia es Pasión“, brachte Talente wie eben Quintana, den Etappenzweiten des Giro, Fabio Duarte, und den Etappendritten, Jarlinson Pantano, heraus. Die beiden Letzteren sind mittlerweile bei Team Colombia angestellt, dem Profi-Rennstall, den das Sportministerium ebenfalls finanziert.

Ein alter Recke wie der Österreicher Bernhard Eisel staunt schon seit einiger Zeit, wie viele gut ausgebildete junge Burschen aus dem Andenland den globalen Profiradsport entern. „Diese Fahrer sind komplett. Sie sind nicht mehr nur exzellente Bergfahrer. Sie sind technisch stark und können sich sicher im Peloton bewegen. Außerdem sind sie taktisch gut geschult. Bei den Nachwuchsrennen in Kolumbien sind Pelotons von mehr als 200 Fahrern keine Seltenheit. In Europa sind wir schon froh, wenn mal Felder von 60 Mann zusammenkommen“, meinte der Sky-Profi. In seinem Rennstall durfte er bis zur letzten Saison die sportliche Entwicklung des aktuellen Giro-Zweiten Rigoberto Uran aus nächster Nähe verfolgen, und mit den Cousins Sergio und Sebastian Henao hat er zwei weitere kolumbianische Talente als Kollegen.

Investieren in den Sport hilft also. Quintana betonte mehrfach seine Hoffnung, dass „jetzt das Bild von unserem Land ein anderes“ sei. „Wir hatten viele Jahre Schwierigkeiten, aber Kolumbien ist mehr als diese Schwierigkeiten“, spielte er auf Drogenkriege und „Kriege gegen die Drogen“, verfestigte Guerillastrukturen und Todesschwadronen von rechts an. „Jetzt ist das Leben gut dort, man kann glücklich leben, und es sind große Schritte gemacht worden, um wirklichen Frieden zu schaffen“, meinte er. Hunderte Kolumbianer hatten aus Freude an den Erfolgen ihrer Sportidole den Atlantik überquert und waren in Triest auf die Piazza Grande geeilt, um ihre Helden zu feiern. Sie schwenkten Fahnen, sangen die Nationalhymne und machten für einige Stunden glauben, der einstige Freihafen sei nun in kolumbianischer Hand.

Der Giro d’Italia war kaum etwas anderes als eine in die Dolomiten verlagerte Kolumbienrundfahrt. Und es gab kaum eine Spezialwertung, die nicht an Profis aus dem Andenland ging. Bergkönig wurde Julian Arredondo. Neben dem Rosa Trikot holte sich Quintana noch das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers. Vorgänger in dieser Wertung waren seine Landsleute Carlos Betancur (2013) und Rigoberto Uran (2012). Kolumbien ist auf dem Weg zur Radsportgroßmacht. Da böte sich die kolumbianische Metropole Medellin als Ort des übernächsten Auslandsstarts des Giro an. Nächstes Jahr soll die rosa Schleife zwischen Mailand und Turin verlaufen. Für 2016 sind die Niederlande gebucht. Danach wäre eigentlich Kolumbien dran. Logistisch gesehen, vielleicht ein schwieriges Unternehmen, die nötige Infrastruktur aber wäre vorhanden. TOM MUSTROPH