WEIHNACHTSRUMMEL
: Unter Brüdern

Wir fuhren mit der „Wilden Maus“

Viele Jahre hatte ich auf die Jungs aufgepasst, und als der ältere Bruder dann älter geworden war, mehr auf den jüngeren. Später hatten wir uns nicht mehr so oft gesehen. Zum Weihnachtsrummel gingen wir aber jedes Jahr. Wir fuhren mit dem Kettenkarussell „Wilde Maus“, kauften Lose und aßen zusammen jahrmarktstypische Sachen. Wir hatten gemeinsame Erinnerungen, und das war schön – wie B. vor ein paar Jahren die freie Auswahl gezogen hatte und, konsterniert davon, sich ein großes Stofftier ausgesucht hatte statt der Autobahn, die ich gewählt hätte.

In diesem Jahr probierten wir Neuheiten aus – den Zweierlooping, der ein kurzes Vergnügen wurde, den Autoscooter, der wirklich Spaß machte. Das Kettenkarussell machten wir auch, ohne daran zu denken, wie kalt es war. Und dass es noch viel kälter war, gefühlte sechzig Meter über dem Erdboden im Fahrtwind. Wir stiegen hoch, es drehte sich; B., der Elfjährige, jubelte und winkte, und ich hatte plötzlich furchtbare Höhenangst, mir war wahnsinnig kalt. B. rief begeistert mit seiner hellen Stimme, um seinen älteren Bruder, der ihn im Normalleben gern drangsalierte, auf irgendwas Tolles hinzuweisen, und ich hatte meine Augen die meiste Zeit geschlossen und wünschte mir sehnlichst ein Ende der Karussellfahrt. Wenn ich sie aufmachte, stellte ich mir ganz automatisch vor, wie das nun wäre, wenn die Kette, an der wir hingen, plötzlich reißen würde, und wie die Freunde nach unserem Tod in meinem Computer herumstöbern würden. Die Karussellfahrt endete glücklicherweise doch.

B. war fröhlich; ich war erledigt; meine Hände tauten nur langsam beim Glühwein auf. Sie taten furchtbar weh, wie die Füße von L., der es aus Peinlichkeitsgründen ablehnt, Winterstiefel anzuziehen, und also in Sneakers unterwegs war. Der Jahrmarkt war toll, aber auch die Rache des kleinen, unerschrockenen Bruders. DETLEF KUHLBRODT