„Eltern müssen früh loslassen“

Auch behinderte Menschen haben ein Recht auf ein eigenständiges Leben, sagt Ursula Klippel von der Spastikerhilfe. Je älter sie werden, desto schwieriger werde die Abnabelung für die Angehörigen

INTERVIEW FELIX LEE

taz: Frau Klippel, Sie haben einen behinderten Sohn im Alter von 27 Jahren. Bei Ihnen zu Hause wohnt er aber schon lange nicht mehr. Warum nicht?

Ursula Klippel: Mein Sohn ist mit 18 ausgezogen. Das war von mir schon immer so geplant. Denn ich finde, dass auch behinderte Menschen ein Recht auf ein eigenständiges Leben haben. Dazu gehört, dass sie mit Gleichgesinnten zusammen sind und frühzeitig lernen, so gut es eben geht, ein selbstständiges Leben zu führen.

Fiel Ihnen der Abnabelungsprozess schwer?

Es ging. Da ich mich schon früh damit auseinandergesetzt hatte und ich ihn auch schon vorher in das Kurzzeitheim Spastikerhilfe Berlin e. G. gegeben hatte, wenn ich in Urlaub gefahren war, fiel mir der Abschied nicht ganz so schwer. Als der Zeitpunkt jedoch da war und ich ihn zu seiner Wohngruppe brachte, war es dann doch schwieriger für mich, als ich vorher dachte.

Inwiefern?

So wie andere Eltern leiden, wenn ihr Kind das Haus verlässt, habe auch ich gelitten. Mein Sohn hat mir gefehlt. Zusätzlich kam die Angst hinzu, ob die neuen Betreuer meinen Sohn genauso gut versorgen würden, wie er bei uns zu Hause gelebt hat. Die Angst war unberechtigt. Mein Sohn hat sich schnell in die neue Umgebung eingelebt und fühlte sich sehr wohl.

Aber viele Eltern entscheiden sich für die Pflege ihrer erwachsenen Kinder.

Zu einem Problem wird es vor allem dann, wenn die Eltern in ein höheres Alter kommen und womöglich selbst pflegebedürftig werden. Das ist ein Problem, auf das die Elternselbsthilfegruppen und Elternvereine daher zu Recht frühzeitig hinzuweisen versuchen. Den Eltern behinderter Kinder wird empfohlen, so früh wie möglich von ihren Kindern loszulassen und sie auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten. Dann haben die Eltern die Möglichkeit, sich einerseits in Ruhe abzunabeln, andererseits können sie trotzdem für ihr Kind noch da sein. Schlimm und schmerzhaft wird der Abnabelungsprozess vor allem dann, wenn es aus einer Zwangssituation heraus nicht mehr anders geht. Aus vielen Gesprächen habe ich die Erfahrung gemacht: Je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird der Abnabelungsprozess.

Für die Eltern oder für die Kinder?

Vor allem für die Eltern. Immer wieder habe ich erlebt, dass Eltern sich nur noch über das Kind definieren und damit auch ihr eigenes Leben völlig aufgeben. Sie haben es versäumt, ab einem bestimmten Punkt ein eigenes Leben aufzubauen. Wenn das Kind aus dem Haus geht, bricht erst recht alles zusammen.

Das Angebot von Betreuungseinrichtungen für Behinderte ist sehr vielschichtig. Wie werden die Eltern dabei einbezogen?

Es gibt auch für Eltern Angebote. Zum Beispiel werden auch an den Sonderschulen die Eltern frühzeitig darüber informiert, welche Möglichkeiten ihre Kinder nach der Schulzeit haben.

Warum gibt es dennoch so viele Eltern, die ihre Kinder nicht weggeben wollen?

In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wird den Eltern suggeriert, dass es ihre Kinder zu Hause besser haben. Das ist das eine. Das andere ist: Seit einiger Zeit haben wir die Fallmanager, die darüber entscheiden, welche Einrichtung oder andere Fördermaßnahme für die Betroffenen infrage kommt. Diese Fallmanager haben ein bestimmtes Budget, mit dem sie sparsam umgehen müssen. Es gibt derzeit die Tendenz, dass die Angehörigen der behinderten Kinder wieder mehr kämpfen müssen. Vor etwa einem Jahr hatten wir in Berlin schon einmal den Fall einer Mutter, die sich und ihren schwerbehinderten Sohn umgebracht hat. Damals ging es um eine Unterbringung für ihren Sohn, die ihr nicht gewährt wurde.