JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Die Zeit ist eine Blase

Nötigung! Wegelagerei! etc. Ein Empörungsaufsatz mehr über den Niedergang der öffentlichen WC-Kultur

Wer mal wieder Zeit intensiver wahrnehmen möchte, der tut eine Reise. Zum Beispiel fährt er mit dem ICE nach Berlin und spätestens bei der zwölften Service-Durchsage dehnt sich der Tag wie Kaugummi. Solchen gibt’s wohl auch „im Bordbistro, wo Sie unsere Mitarbeiter gerne erwarten“. Helfen Sie mir bitte: Habe ich eine Meise, oder geht das einfach nicht, jemanden „gerne erwarten“? Man kann meinem Verständnis nach gerne auf jemanden warten. Aber „gerne erwarten“? Mir fehlen momentan die grammatikalischen Termini, um mein Empfinden zu untermauern, aber ich mutmaße, die Bahn legt ihren Mitarbeitern sprachlich Fragwürdiges in den Mund, Hauptsache, es hört sich kundenfreundlich servil an. Was sagt man dann im Bordbistro? „Danke, ich freue mich gerne auf die Wurstsemmel“? Und dann der Kaffeeverkäufer, der mit seinem roboterhaften „Wünscht hier noch jemand Kaffee?“ durch die Wägen stelzt. Die Kollegin kommt später mit der offenbar zulässigen Variation „Wird hier noch Kaffe gewünscht?“ hintendrein. Ein einziges Wünschiwünschi und Gernegerne – aber kaum verlässt man den warmen Uterus des ICE, pfeift einem der feuchte Wind der Servicewildnis um die Ohren.

Berlin, Alexanderplatz. Inmitten eines Gebirges aus kaltem Beton forderte die Natur ihr Recht, und ich erinnerte mich des entlegenen Winkels, in dem seit der Abschaffung der klassischen Bahnhofstoilette ein kommerzieller Pissbudenkettenbetreiber sein Etablissement führt. Ich schleppte mich nebst Gepäck dorthin – und stand fassungslos vor dem Schild: „Pissoir 80 Cent“.

Wenn ich jetzt hier hinschreiben würde, was meiner Meinung nach mit Leuten gemacht werden sollte, die 1 Mark 60 fürs Pinkelnlassen verlangen, würde wohl jemand die Polizei anrufen und ja, wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Allerdings wäre ich geneigt, diesen ein gaaanz klein wenig mit Füßen zu treten, wenn es um Leute geht, die einem in weitläufigen großstädtischen Bahnhofkomplexen den Zutritt zu einer Nasszelle voll miefender Plastikurinale mit einem Drehkreuz versperren, in dem Wissen, es werde derjenige dann schon 1 Mark 60 in den Schlitz werfen, der dringend genug muss. Und wie viele kommen da wohl täglich an, die sich sagen: „Potztausend, die Möglichkeit der Verrichtung der Notdurft an einen solch umfänglichen Obulus zu knüpfen, das trägt den Ruch der Nötigung! Dies ist nicht weniger als Wegelagerei, aber Leute, ich muss dermaßen pissen, dass mir gleich die Rübe platzt“, und dann zahlen sie ihre 80 Cent und gut is’.

Ich hätte es um Himmels willen auch tun sollen, anstatt mit einem empörten „1 Mark 60 fürs Seichen! Ihr spinnt doch!“ auf dem Absatz kehrt zu machen. Sofort war mir mein schlechter Move klar, aber es gab kein Zurück. Der Ausbruch war mir eine Terz zu theatralisch geraten und die umstehenden jungen Leute, die ich mit meiner explosiven Kritik am Privatisierungsunwesen nebst vorgelebter Verweigerungshaltung gerade irgendwie aufgewühlt, wachgerüttelt zu haben schien – jedenfalls guckten sie so komisch –, diese jungen Leute jetzt so zu enttäuschen, wäre ja auch blöd gewesen. Ich ging weiter. Ich ging in die Hölle. Der ganze Weg zurück durch den Bahnhof. Acht Minuten (wenn nicht neun!) Wartezeit auf die U8. Dann ca. zehn Stunden ruckelige Fahrt zur Schönleinstraße. Ich mag am Bahnfahren das Kontemplative; wie es die Gedankengänge anregt, oftmals, wenn man so dahingleitet.

Zum Beispiel hatte ich bis vor kurzem gar keine dezidierte Meinung dazu, was mit Leuten gemacht werden sollte, die 1 Mark 60 fürs Pinkelnlassen verlangen. Die habe ich mir erst auf dieser langen U-Bahn-Fahrt nach Neukölln gebildet.

In Neukölln aber wohnt meine bezaubernde Patentochter Selma. Und als die mir schließlich auf allen vieren entgegenwatschelte, fielen mit einem Mal alle brutalisierten Gedanken hinten aus meinem Kopf heraus. Ein Viertel ihres Lebens hatte ich sie schon nicht mehr gesehen, und das war mir dann zeitflashmäßig fürwahr intensiv genug. Nächstes Mal lasse ich das Getue dazwischen weg.

Fotohinweis: JOSEF WINKLER ZEITSCHLEIFE Pressiert’s? kolumne@taz.de Morgen: Susanne Lang DIE ANDEREN