Gedanken zum 11. September 2001

DIE TWINS Betrachtungen über einen Tag, der in unsere Gegenwart hineinreicht

■ Stationen: Kempowski (1929 bis 2007) wurde in Rostock geboren. 1948 wurde er von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, kam aber nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen frei. Danach arbeitete er als Lehrer. Seine „Deutsche Chronik“ (eröffnet 1971 mit dem Roman „Tadellöser & Wolff“, beschlossen 1984 mit „Herzlich willkommen“) korrespondiert mit dem zehnbändigen „Echolot“, für das er höchste internationale Anerkennung erntete. Kempowski gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein Werk im Knaus Verlag.

■ Archiv: Den vorliegenden – unveröffentlichten – Text fanden wir im Kempowski-Archiv der Akademie der Künste Berlin. Ein Dank geht an Hildegard Kempowski. Foto: Galerie Cohrs-Zirus

VON WALTER KEMPOWSKI

Die wenigen Gestalten, die vom Hubschrauber aus oben auf dem Dach des Südturms zu sehen waren, die hinunterlaufenden Geschäftsleute, in Hemdsärmeln, und die hinaufstürmenden schwer bepackten Feuerwehrleute.

Die offenbar schwerbehinderte Frau, die von zwei Männern gestützt hinausgeleitet wird, über und über bestäubt. – Und die junge Frau, die – von hinten gefilmt – hinausstürzt und sich Platz schafft durch Hüftboxerei.

Mancher denkt vielleicht: Die Behinderte hätten sie auch drinlassen können.

Das Zusammenstürzen des Südturms: Die hohe Antenne geht wie eine Fahne unter.

Die Leute, die bereits unten waren und dann nicht wussten, wie sie ins Freie gelangen.

Die Leute, die vor der Staubwolke davonlaufen. Einige bleiben stehen und drehen sich um. Einer fährt mit dem Fahrrad. Papier weht auf der Straße von der herannahenden Wolke, emporgewirbelt?

Der Gegensatz zwischen den Tonband-Hilferufen und den ruhig dasitzenden Ehefrauen, die sich das anhören.

Die farbige Telefonistin, die berichtet, dass ein Eingeschlossener mit ihr das Vaterunser gebetet habe!

Die fehlende Erkenntnis, dass eine solche Himmelsstrafe vielleicht doch mit Sünden zusammenhängen könnte.

Auch denkt man: Sie sollten lieber die Klagen nicht so oft bringen, das wird die Terroristen erst recht freuen. Ein bisschen spät haben sie es kapiert, dass allzu viel Fotografieren vielleicht doch nicht so ganz gut ist?

Die Trittbrettfahrer, die sich durch die Katastrophe Geld beschaffen wollten. Vielleicht wurden ihre tränenreichen Klagen auch gesendet? Die teilnahmsvollen Beamten – und alles Lug und Trug.

Was hat Bush in einer Grundschule zu suchen? Als sie ihm berichten, dass auch das zweite Hochhaus getroffen wurde: seine Knopfaugen, und neben ihm ein grinsendes Schulmädchen, das später, in den Wiederholungen, weggeschnitten wurde.

Die Frage: Woher haben sie die Atemschutzmasken so schnell gekriegt?

Manch einer mag es bedauert haben, dass nicht das Capitol getroffen wurde, sondern stattdessen das unfotogene Pentagon.

Dass die Funktelefone der Polizei in Washington untereinander nicht kompatibel waren. Manch einer der Herunterlaufenden hat seine Aktentasche mitgeschleppt. Einige haben sich den Schlips locker gezogen.

Die sich aus den Fensterschlitzen herausbeugenden Eingeschlossenen.

Jetzt werden täglich, fast stündlich die Bilder der getroffenen Hochhäuser gezeigt, ich muss immer wieder hingucken. Die sich hineinschneidenden Flugzeuge.

Einer der Türme qualmte hässlich schwarz, der Qualm wehte undramatisch davon, wie aus einem Schornstein, die helle Pilz-Flammenglut im anderen.

Die Geräusche während des Zusammenstürzens: O my God? Look! … Dazu die Polizeisirenen (unnötigerweise).

Ein Foto aus dem Fenster eines Appartments, Gardinen zur Seite gezogen, Kakteen auf dem Fensterbrett: die ruhig dahinqualmenden Türme im hellen Sonnenschein.

Der Name des Sicherheitsmannes wird nicht verraten, der durchgesagt hat: Bleiben Sie in Ihren Büros? Auch ungenannt der Feuerwehroffizier, der die Boys hinaufschickte.

Die völlig abwegige Art der Berichterstattung im Spiegel, auf die Aust besonders stolz ist. Ähnlich gemacht wie ein nicht kapiertes Echolot. Man weiß gar nicht, von wem die Rede ist.

Der nüchterne Fernsehbericht über die Ursachen des Einsturzes, wie es dazu kam, dass die Türme nicht standhalten.

Das nennt man Authentizität, auch wenn man nicht weiß, wie das geschrieben wird.

Danach durften im Flugzeug keine Nagelscheren mehr „mitgeführt“ werden!

Keine Assoziationen zu Dresden „verbalisiert“, Hiroshima ist kein Thema.

Der Stockhausen hat spontan irgendwas Anerkennendes gesagt, sehr verklausuliert, auf den gingen sie aber los!

Kitsch erwartet man bei den hartgesottenen Journalisten am allerwenigsten.

10. 9. 2002