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Archiv-Artikel

Ein Moment von Utopie

TANZ Im HAU zeigt die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues „Pindorama“. Mit einfachen Mitteln bringt sie skulpturale Momente hervor, die über das Miteinander der Menschen und über das Wasser erzählen

VON ANNETT JAENSCH

Wassertropfen perlen. Ein leiser Luftzug geht. In sanfter Atmosphäre empfängt „Pindorama“ das Publikum. Doch wie im Auge eines Orkans ist die Stille trügerisch. Wenig später kämpft eine junge Frau gegen die Wucht der Elemente. Ihr nackter Körper stürzt von einem Wellental ins nächste, als sei er Treibgut in einer unbarmherzigen See.

Das wilde Tosen der Fluten – natürlich ist es ein Theatertrick, simpel und perfekt zugleich. Eine wasserbenetzte Plastikplane, an beiden Enden vom Performerteam zuerst sachte, dann heftig auf und ab bewegt, sorgt für die Illusion einer alles verschlingenden Welle. Den Zuschauern, rechts und links von der Plane am imaginären Ufer stehend, bläst vom gespielten Überlebenskampf ein realer Wind ins Gesicht.

Die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues schließt mit dieser Produktion eine Trilogie ab, in der Reflexionen zum Lebenselixier Wasser, zu Gemeinschaften und Brasilien zusammenfließen. „Pindorama“ nannten die Tupí, die Ureinwohner Brasiliens, ihr Land vor der portugiesischen Kolonisation. Für „Pororoca“ (2009) standen die Mündungswellen des Amazonas namentlich Pate und „Piracema“ (2010) bezieht sich auf das Schwimmen der Fische gegen den Strom.

So bedeutungsschwanger diese Verweise auch daherkommen, ein vordergründiges Bespielen von Naturmetaphorik ist Rodrigues’ Sache nicht. Vielmehr entwirft sie Bilder, die gleichermaßen von den Fährnissen der menschlichen Existenz und von Utopien des Miteinanders erzählen. Wie weit sie ihre Stilrecherchen vorangetrieben hat, führt „Pindorama“ bestechend vor: Einfache szenische Mittel bringen skulpturale Momente von großer Wirkung hervor.

Gewalt, Fragilität, Hoffnung, alles scheint gleichzeitig auf, als sich eine fünfköpfige Gruppe in die labile Versuchsanordnung begibt. Die Plane wird unter ihren Füßen immer wieder quer durch den Raum gezogen und über ihren Köpfen zusammengeschlagen. Ihre Leiber rollen ineinander und übereinander, Gliedmaßen verknäulen sich. Hier ist Gemeinschaftsbildung zu beobachten, prekär und in Echtzeit.

Das Thema Gemeinschaften beschäftige sie schon seit Längerem, erzählte Rodrigues am Rande einer Vorstellung bei den Potsdamer Tanztagen. Vor allem die Entscheidung, das Probenzentrum ihrer Kompanie in eine der Favelas von Rio de Janeiro zu verlegen, habe sie ganz massiv mit Fragen des Gemeinsinns konfrontiert. Rodrigues gilt seit über 20 Jahren als feste Größe der zeitgenössischen Tanzszene Brasiliens. Von 1992 bis 2005 kuratierte sie das Tanzfestival „Panorama da Dança“. Wie klein der Zirkel derjenigen ist, die in Brasilien Zugang zu zeitgenössischer Kunst haben, wurde ihr in dieser Zeit bewusst.

Der Wunsch, ein soziales mit einem künstlerischen Projekt zu verbinden, habe sie schließlich 2004 nach Maré geführt. In der Favela im Norden von Rio leben rund 130.000 Menschen, Kino oder Theater gibt es nicht. Wie arbeitet es sich in diesem Brennpunkt, wo Drogenbanden und Polizei um die Vorherrschaft kämpfen?

Die abgetrotzte Struktur

Ein Weg der vielen kleinen Schritte sei es: In der ehemaligen Fabrikhalle, in der sie ein Kunstzentrum und eine kostenlose Tanzschule eingerichtet haben, gehen massenhaft Menschen ein und aus, es ist staubig, im Sommer herrschen gern mal 42 Grad, Schüsse in der Nachbarschaft sind keine Seltenheit. Diesen Gegebenheiten Struktur abzutrotzen, das sei die große Herausforderung, betont die zierliche Endfünfzigerin, aus deren Augen die Energie für derlei Unterfangen blitzt.

Dass die legendäre, gut hundert Jahre alte Choreografie „Le Sacre du Printemps“ als Inspiration auf „Pindorama“ abstrahlte, mag nur im ersten Moment verwundern. Das Opfermotiv kennt viele Ausformungen, für Rodrigues findet es einen Widerhall im heutigen Brasilien. Was ist eine Gesellschaft bereit, für den Fortschritt zu opfern? Den Zugang zu Wasser zum Beispiel. Abholzung von Regenwäldern und Wasserprivatisierung haben schon längst im größten Land Südamerikas das kühle Nass zum umkämpften Gut werden lassen.

„Pindorama“ klingt mit einem Schlussbild aus, das alle Fäden noch einmal aufnimmt. Auf dem Boden verteilte Wasserballons formen sich zu einem Parcours, durch den es sich für die elf Performer und das Publikum nur auf eine Art navigieren lässt – als Gemeinschaft.

■ Pindorama, 4. + 5. Juni, HAU 2, 20.30 Uhr