betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen

ESTHER SLEVOGT

Die Liebesgeschichte, die Rainer Werner Fassbinders vor 40 Jahren entstandener Film „Angst essen Seele auf“ erzählt, spielt in einem anderen Deutschland. Bigotter Bürgermuff (und die unverdaute Nazi-Vergangenheit) lagen immer noch wie Blei über allem. Das bekommen auch Emmi und Ali zu spüren, die Hauptfiguren dieses berühmten Melodrams. Emmi ist über sechzig und Ali mehr als 20 Jahre jünger. Beide verlieben sich, sie eine deutsche Putzfrau, er ein aus Marokko eingewanderter Arbeiter. Die Gesellschaft rümpft die Nase. Sie selber kämpfen ebenfalls mit der Situation, Pioniere, die sie in jeder Hinsicht sind. Emmi hat Angst. „Nix Angst“, sagt Ali zu ihr. „Angst essen Seele auf!“ Als Einwanderer für ihr schlechtes Deutsch noch verhöhnt wurden, das für die Mainstreamgesellschaft Ausdruck ihrer grundsätzlichen Unterlegenheit war, erhob Fassbinder den grammatisch inkorrekten Satz in seinem berühmten Filmtitel zu einer poetischen Menschheitsformel. Wie aber wäre es heute? Am Gorki-Theater unterzieht Hakan Savas Mican, selbst Sohn türkischer Einwanderer, jetzt den Stoff einer Revision. Und unternimmt vielleicht auch einen Perspektivwechsel. (Gorki-Theater: „Angst Essen Seele auf“, Premiere 6. 6., 19.30 Uhr)

Einen Perspektivwechsel hat auch der Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger für sein neues Stück angekündigt, das „Schlachtfeld Erinnerung 1914/2014“ überschrieben ist. Es geht um die Deutung des Ersten Weltkrieges, dessen Ausbruch sich in diesen Wochen zum hundertsten Mal jährt. Denn viele heutige Konflikte und Kriege in dieser Welt haben ihre Wurzeln in den Hinterlassenschaften dieses Krieges, in der Neuordnung, die die westlichen Siegermächte in den Verträgen von Versailles verfügte – von Europa bis in den Mittleren Osten. Kroesinger blickt nun in unterschiedliche Länder, die am Krieg beteiligt oder von seinen Folgen betroffen waren. Was wird wo wie erinnert? In der Türkei, in Österreich oder Ungarn. Welche Feindbilder, welche Identifikationsfiguren werden konstruiert? Welche Rolle haben sie in den jüngst zurückliegenden Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gespielt? (HAU3: „Schlachtfeld Erinnerung 1924/ 2014“, Premiere 11. 6., 20 Uhr)

Das unbewältigte Erbe des 20. Jahrhunderts grundiert auch die Geschichte, die das Stück des russischen Schriftstellers Farid Nagim „Tag der weißen Blume“ erzählt. Die Premiere der Inszenierung von Stephan Kimmig findet in den Kammerspielen des Deutschen Theaters am 5. Juni zur Eröffnung der diesjährigen Autorentheatertage statt. (Deutsches Theater: „Autorentheatertage“, 5.–14. 6. Alle Infos: www.deutschestheater.de)