BALKON UND SCHLAUCHBOOT
: Summe der Kieze

Wir treiben in einer Schar weiß leuchtender Schwäne

Berlin ist die Summe seiner Kieze, und jeder sollte sich dieser multiplen Persönlichkeit stellen. Das tut in beängstigender Reinform der Steglitzer Architekt mit Zehlendorfer Großeltern, der an der Charlottenburger TU studiert hat und auf einer linken Politparty in Kreuzberg seine aus Weißensee stammende Frau kennenlernte, mit der er am Prenzlauer Berg wohnt, wenn er nicht gerade in seinem Büro in Mitte mit der Friedrichshainer Praktikantin schläft. Ganz anders seine Nachbarin am Kollwitzplatz. Die in Stuttgart geborene und in Karlsruhe aufgewachsene Politikberaterin, verheiratet mit der Freiburger Jugendliebe, hat wegen einer früheren Jobs in Bonn noch Wurzeln im Rheinland, verkehrt mit dem Chef des westdeutschen Partnerunternehmens regelmäßig sexuell in einem Braunschweiger Motel und packt freitags den Benz mit Stuttgarter Kennzeichen voll, um das Wochenende in der Lübecker Bucht zu verbringen. Auch das ist Berlin – aller Schwaben hassenden Kiezdünkelei zum Trotz.

Aber wo hört die Kiezrealität auf und wo beginnt die Berlin-Identität? Wenn ich am Sonntagabend bei einem Freund im 11. Stock eines Blocks am Kottbusser Tor auf dem Balkon stehe, den warmen Beton im Rücken, es läuft die Elektropunkplatte, die ich gerade fast für umme auf dem Flohmarkt gekauft habe, während ich auf ein im goldenen Sommerlicht gleißendes Großstadtpanorama schaue – ist dann Kreuzberg oder Berlin identitätsstiftend? Eine Stunde später, als wir mit dem Schlauchboot den Landwehrkanal hinunterpaddeln, die kiffenden Hippies am Ufer mit dem abendlich dunkler werdenden Dickicht verschmelzen und wir plötzlich inmitten einer Schar weiß leuchtender, schlafender Schwäne treiben, auf der einen Seite Neukölln, auf der anderen Treptow und hinter uns Kreuzberg, wird mir klar: da ist sie ja, die Summe der Kieze.FLORIAN SCHMID