AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON RENÉ HAMANNSILVESTER AUF DER SONNENALLEE: Vorsatz für 2011: ein Klapprechner-Tattoo auf dem Unterarm
Großraumoperationen im flüssigen Himmel. Silvesternacht. Wir kamen uns mit unseren kleinen Raketen sehr mickrig vor. Auf dem gegenüberliegenden Balkon wurden Fahnen geschwenkt, von unten wurde wieder einmal polnische Importware geworfen, es hat Lücken gegeben, die der Zoll nicht hatte schließen können, auch war der Fernverkehr zusammengebrochen, die wütenden Reaktionen aber fielen aus. Man solle ohnehin eine neue, soziale Langsamkeit pflegen, meinte auch der Fernsehphilosoph in der einzigen verfügbaren Sonntagszeitung, die ich in dem von jungen, bärtigen Trotteln mit Mütze besetzten Café am folgenden Sonntag, also zwei Tage nach Silvester, las.
Die Raumschiffe im Himmel waren kerzenbetriebene Luftballons. Wir kannten sie vom Sommer. Sie waren illegal, aber das machte nichts. Die Silvesternacht ist eigentlich ein optimaler Zeitpunkt für einen Angriff, für eine nukleare Operation, dachte ich auf dem Balkon in der Sonnenallee. Alle Welt war eh mit Explosionen beschäftigt. Explorationen, Invasionen, Explosionen.
Aber richtig ist: Der Weltuntergang findet erst im nächsten Jahr statt. Genauer: am 21. Dezember 2012. Jedenfalls sagen das verschiedengläubige Kalender. 2011 sollte noch einmal ein Jahr der Dekadenz werden, dachte ich, aber außer im konsumistischen Sinne hatten die Neubürgerlichen dieser Stadt ja ganz vergessen, wie das geht, Dekadenz. Das Leben orientiert sich am Markt, an den Möglichkeiten, an börsennotierten Voraussetzungen, das Leben wird schüchtern geführt und beflissen. Dekadenz ist in diesem Jahr nicht mehr verfügbar.
Der Fernsehphilosoph bezeichnete Kritik an ihm als männlichen Stutenbiss. Schwarze Pferde aber ritten keine durch die Nacht, Fußgängerampeln an Kreuzungen konnten jedoch durchaus als romantische Orte wahrgenommen werden, daran erinnerte ich mich in dieser Silvesternacht auf dem Balkon. Es gab Rauchentwicklungen. Aber wieder flogen keine Brote in die Luft.
In unserer kleinen Gesellschaft in der Sonnenallee kam spät noch Tanzdrang auf, nachdem wir uns schon elektroakustisches Weltraumtennis angehört, mitgebrachte Lieder zu den eigenen Vorsätzen („Money“, „Fuck It All“, „The Rest of Our Lives“) vorgespielt und etwas Gainsbourg zu uns genommen hatten. Problem: Tanztonträger Mangelware. Was tun? Klapprechner an die Anlage anschließen und YouTube anschmeißen. Auflegen mit YouTube gehört zu den hohen Künsten dieser Zeit. Es heißt nämlich, unterschiedliche Soundqualitäten vorauszuahnen, zwischen Live- und Studioversionen zu unterscheiden, Übergänge zwischen zwei Fenstern hinzubekommen, und das Urheberrechtsproblem zu umgehen. Und sich duzen zu lassen. Oder ein neues Fenster zu öffnen und einen Drittanbieter aufzurufen. Der dann Werbung vor die Clips geschaltet hat.
Die Bedienung in dem Café übrigens hatte sich eine Kaffeetasse auf den Oberarm tätowieren lassen. Berufsbedingte Tattoos, neue Ausdrucksmöglichkeiten. Ich könnte mir also einen Klapprechner tätowieren lassen. Oder, hallo Retroschick, eine Schreibmaschine.
Auf dem Weg zur Gesellschaft hatte ein ganzer Bus Frohes neues Jahr eingeübt. In diesem Bus, der an der besagten romantischen Ampel hielt, hatten sich Australierinnen eingefunden, die ihre sommerliche Heimat tatsächlich gegen diese Ahnung vom ewigen Sibirien eingetauscht hatten. Zumindest zeitweise.
Wir aber sprangen zu Eurodance herum. Schrummten über abgezogene Dielen zu Rapmusik, die auch schon wieder dreißig Jahre alt war, und übten ironische Breakdancemoves. Und den Moonwalk. Und beendeten den Ausflug ins Körperliche via Hot Chip und LCD-Soundsystem beim ewig jungen Kopfschütteln zu Danzig und Motörhead. Hölle ja.
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