Feuerspeiende Schlünde

Zeit- und Glaubenszeugnisse vom Pastor bis zum Kanzler: Predigten im Hamburger Michel aus fünf Jahrhunderten

Es ist nicht gerade wahrscheinlich, in einem heutigen Durchschnittshaushalt eine Predigtsammlung zu finden. Das Buch, das der ehemalige Hauptpastor an der Hamburger St. Michaeliskirche, Helge Adolphsen, vorgelegt hat, wäre eine Gelegenheit, diesem Zustand abzuhelfen. Man muss kein Christ sein, um die Sammlung interessant zu finden, denn die Predigten lassen sich nicht nur als Glaubens- sondern vielfach auch als Zeitzeugnisse lesen.

Adolphsen hat 30 Predigten aus fünf Jahrhunderten ausgewählt – von der Grundsteinlegung des heutigen Michel 1649 über eine Bach-Würdigung durch Helmut Schmidt bis zur Trauerfeier für Max Schmeling 2005. Jede Predigt ist mit einem Kommentar versehen, der die Predigt einordnet und auf ihre zentralen Passagen hinweist.

Dass Adolphsen wenige alte Predigten aufgenommen hat, ist zwar enttäuschend. Das Buch wird dadurch aber attraktiver. Die alten Texte sind uns fern, auch wenn ihre Themen aktuell sind.

Die Texte zeigen die besondere Offenheit der evangelischen Kirche für die Gesellschaft. Sie verweigert dem Atheisten Rudolf Augstein nicht das Geleit und lässt den Juden Michel Friedman von der Kanzel der Opfer des Nationalsozialismus gedenken. Andererseits unterschlägt Adolphsen nicht, dass die Predigten August Wilhelm Hunzingers aus dem Ersten Weltkrieg eine teuflische Nähe zum militaristischen Staat zeigen: Als die Glocken 1917 eingeschmolzen werden, predigt er: „Gott will, dass feuerspeiende Schlünde aus diesen Glocken werden, damit unser deutsches Vaterland verteidigt bleibe gegen die Feindschaft aller Welt.“ Gernot Knödler

Helge Adolphsen (Hg.): „O, wie so herrlich stehst du da. Predigten im Hamburger Michel aus fünf Jahrhunderten“, Murmann-Verlag, 288 Seiten, 18 Euro