MEIKE JANSEN
: Never Mind 2010 – Here’s The 2011

Das Unwort des Jahres 2010, eigentlich als Motivation für eine zukünftige Auseinandersetzung mit den demokratischen Verhältnissen in der Republik gedacht, verdeutlicht ein Missverständnis. Denn die sogenannten Wut-Bürger sind nichts anderes als BürgerInnen, die ihre Unzufriedenheit mit den herrschenden Entscheidungsprozessen demonstrieren. Ob mit oder ohne Wut, egal! Wie auf den Straßen, haben 2010 auch in der Kunst die gesellschaftlichen Aspekte an Relevanz gewonnen. Dabei brachte das Jahr vor allem die Erkenntnis, dass Kunst nur so politisch sein kann, wie die Menschen, die sie schaffen und reflektieren. Noch im September ließ es sich beispielsweise mit pochendem Herzen und geballter Faust durch „Goodbye London – Radical Art and Politics in the Seventies“ in der NGBK marschieren. Fotografien von antischwulenfeindlichen Demonstrationen, poppige künstlerische Flugblätter, Plakate und Aktionen – 2011 ist leider doch komplizierter. Es geht nicht mehr nur um die Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Vergleichbar geht es um eine geschlechtliche Offenheit (Genderpolitics), die sich schwer mit Parolen proklamieren lässt. „Gleicher Sex für alle“ funktioniert nicht wirklich. Es ging 2010 aber auch immer wieder um Migration, um eine Biennale, bei der die Kuratorin auf der Suche nach Migranten-Ballungsräumen sich in Klischees verfing und Dialoge nicht förderte. Gut für sie und die Teilnehmenden, dass schnell König Fußball die kulturelle Hoheit übernahm. Der Politkonter der N.B.K. „Freedom of Speech“ rundete das Karussell des institutionellen Gebläses mit einer Show ab, die verdeutlichte, wie politische Kunst durch Musealisierung entkräftet wird. Erst das „Portosí-Prinzip“ im Haus der Kulturen der Welt schien, nicht nur über die radikale Verbindung von Inhalt und Ausstellungsstruktur, neue Anreize zum Nachdenken über eine globalisierte Gesellschaft zu bieten. Wirklich vermissen konnte man 2010 hingegen den Skulpturenpark Berlin_Zentrum mit der dort üblichen Auseinandersetzung um Stadtentwicklung und deren „möglichen“ Auswirkungen. In diesen Genuss kamen die NutzerInnen von Halle (Saale), wo die den Skulpturenpark betreibende KUNSTrePUBLIK das Werkleitz Festival kuratierte. Bei ihrem eigenen Projekt „Halle alle“ hallten zu den gegebenen Zeiten fünfmal am Tag die beiden Worte gleich dem surenartigen Gesang des Muezzins über den Marktplatz und schlugen eine humorvolle wie verstörende Brücke in die Stadt. Dass Sarrazin gerade zu diesem Zeitpunkt in aller Munde war: ein Zufall, der die Auseinandersetzung über das Werk anfeuerte. Im Senatsreservespeicher schuf zuvor Nassan Tur mit seiner Videoinstallation „Preperation No. 1“ eines der atemberaubendsten Werke des letzten Jahres, das über das Gleichgewicht zwischen politischen Interessen und Körperlichkeit, Individuum und Gesellschaft zu einer neuen Eigenverortung anregte. Thorsten Passfelds überraschende wie zurückhaltende Laubsägearbeit lächelnder DemonstrantInnen mit leerem Transparent weist in der Galerie Levy (bis 8. Januar) humorvoll auf austauschbare Parolen hin, die nichtsdestotrotz wichtig sind benannt zu werden. Do it yourself! Hier könnte beispielsweise das Berliner Kunstereignis 2011 auftauchen. Denn bei der „Berliner Leistungsschau junger Kunst“ wird sich zeigen, wer sich politisch verhält und wer politisch denkt. Welchen Unterschied das im Kunstsystem macht, könnte eine der spannendsten Diskussionen werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen Diego Castros „immaterialist international“, die zum Jahresende wiederum den Kreis ins London der siebziger Jahre schließen.