„Identische Frühvergreisung“

VORTRAG Altphilologe Frank Wittchow öffnet die Augen für das Neue am modernen Roman

■ 41, Altphilologe und Historiker, hat über „List und Improvisation“ habilitiert, lehrt am Bontjes-van Beek-Gymnasium Achim und an der Humboldt-Uni Berlin.

taz: Herr Wittchow, wie kommen Sie als Altphilologe zu Italo Svevo?

Frank Wittchow: Ganz einfach: Ich habe Senilità im Zug gelesen – auf der Fahrt zu einer Tagung über Ovid und die römische Liebes-Elegie…

und hätten dabei deren typisches Metrum im Roman bemerkt?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Übersetzung gelesen, und Svevo hat Prosa geschrieben – von der viele Romanisten behaupten, sie sei schlecht und es wäre unverständlich, warum Svevo Italienisch und nicht Deutsch geschrieben hat. Das konnte er nämlich viel besser.

Wo liegt denn dann die Verwandtschaft, über die Sie heute sprechen?

In den Motiven, in der Erzähllogik und in der Handlung.

Zum Beispiel?

Die Handlung des Romans ähnelt stark dem Plot der Liebes-Elegie: Ein junger Mann verliebt sich in eine Hetäre – also eine Prostituierte – kann aber seine idealisierte Vorstellung von ihr nicht mit deren stark materialistischer Weltsicht vereinbaren, und verfällt dadurch in eine gewisse Passivität: Das Konzept der mollitia ist zentral für die elegische Gattung. Und Senilità, die Frühvergreisung der Hauptfigur Emilio Brentani, scheint mir damit weitgehend identisch.

Ist denn Antikenrezeption in der Moderne überraschend?

Nein. Überraschend finde ich allerdings, dass sie bislang nirgends thematisiert worden ist. Dabei gilt Svevo neben James Joyce und Marcel Proust als eines der Flaggschiffe des modernen Romans.

Zurecht!

Zweifellos. Aber wenn ich nicht weiß, was alt ist am modernen Roman und keinen Blick für die Erzähltraditionen habe, in die er sich stellt, kann ich auch das Neue daran nicht erkennen

INTERVIEW: BENNO SCHIRRMEISTER

■Keine Moderne ohne Antike? Italo Svevo und die römische Liebes-Elegie, Haus der Wissenschaft, 20 Uhr