Wahre Ziegen fliegen davon

LUSTPRINZIP Es sollte nie ein Spiel werden. Es ist voller Fehler. Doch der „Goat Simulator“ gehört zu den erfolgreichsten Spielen dieser Tage. Und es lehrt die Grenzen der Anarchie

VON MAIK SÖHLER

Gute Spiele lassen sich nicht in einem Satz zusammenfassen. Schlechte Spiele schon. Und dann gibt es noch den „Goat Simulator“. Das ist ein gutes Spiel, und zur Beschreibung reicht genau ein Satz: Der Spieler muss als Ziege die Welt erkunden und sie zerstören.

Der „Goat Simulator“ spiegelt dabei das aktuelle Befinden des Spielers wieder. Man kann die Ziege friedlich durch ein hübsch programmiertes Dörfchen steuern, auf dass sie die Welt entdeckt. Man kann an dieser Welt auch mitwirken und Aufgaben erledigen, die auf dem Bildschirm aufploppen – also zum Beispiel springen oder fliegen lernen. Man kann auch einfach destruktiv sein. Der eigene gehörnte Schädel ist härter als die meisten Häuser und Gegenstände im Dorf.

Lernen ist Religion

Der erste Weg („Welt entdecken“) ist der der Freiheit. Der zweite Weg („Aufgaben erledigen“) ist der des Lernens. Der dritte Weg („destruktiv sein“) ist der der Zerstörung. Alle drei Wege finden sich im Werk des russischen Anarchisten Michail Bakunin. Die Freiheit von Staat, Autorität und Zwang ist sein Metathema: „Freiheit ist das absolute Recht aller erwachsenen Männer und Frauen, für ihre Handlungen keine andere Bewilligung zu suchen als die ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Vernunft.“ Das Lernen gilt ihm als Ersatzreligion: „Die Schulen werden die Kirchen ersetzen.“ Die Zerstörung gehört zum „Triumph der universalen Verbrüderung auf den Trümmern aller Staaten“.

Im Anhang zu „Gott und der Staat“ schreibt Bakunin über die Vorfahren des Menschen, sie besäßen „die Fähigkeit zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis, sich zu empören. Diese beiden Fähigkeiten und ihr fortschreitendes Zusammenwirken im Lauf der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die verneinende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität und schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen ausmacht.“

Menschliche Animalität also. Die Ziege ist für den Spieler, um es mit Bakunin zu sagen, Ausdruck der „unendlichen Vielfalt und Verschiedenartigkeit realer Interessen, Sehnsüchte, Willensäußerungen und Bedürfnisse“ oder ohne ihn gesagt: Sie ist Mittel zum Zweck. Wer die 1 auf der Tastatur drückt, erhält ein kräftiges „Määäh!“, beim E wird was angeleckt – ein Auto oder ein Mensch zum Beispiel – und so lange an der langen Ziegenzunge mitgeschleift, bis ein weiteres E die Zunge wieder löst.

Der deutsche Herausgeber des Spiels verzichtet im Beiheft auf die sonst üblichen Angaben zum Spielprinzip, zu den Figuren und zur Tastenbelegung. Stattdessen werden Ziegenrezepte abgedruckt. Auch das erinnert an Bakunin, dem der britische Historiker James Joll bescheinigte, er sei mehr ein Mann der Tat als ein Mann der Theorie gewesen.

Ist der Anarchist also die Ziege unter den Revolutionären? Der „Goat Simulator“ gibt klare Antworten. Ja, dieses Tier will die Freiheit. Ja, dieses Tier erledigt alle Aufgaben, um die Freiheit zu erreichen. Ja, dieses Tier kennt die zur Freiheit gehörende „schöpferische Zerstörung“ Bakunins, wobei die Betonung eindeutig mehr auf „Zerstörung“ als auf „schöpferisch“ liegt. Nicht alles lässt sich kaputtmachen, doch es ist nicht viel, was nach drei, vier Stunden von der Gegend noch intakt bleibt.

Die schwedische Entwicklerfirma Coffee Stain Studios hatte sichtlich Spaß beim Programmieren. Im Dorf liegen auch die digital nachgebildeten Büroräume des Herstellers, und die können zerstört werden.

Der „Goat Simulator“ sollte nie ein Spiel werden. Er war als Software-Schulungsvideo gedacht, gelangte ins Netz, fand viele Fans und kam erst dann als Spiel heraus. Das war voller Programmierfehler, so kann die Ziege an manchen Orten einfach durch die Luft laufen.

Der „Goat Simulator“ zwingt wie kaum ein anderes Spiel zu einem Bekenntnis: Es gibt nur Fans und Feinde – dazwischen ist nichts. Wer das Spiel hasst, spricht vom schlechtesten Aprilscherz aller Zeiten – es erschien am 1. April. Fans lieben das Schlichte, die sinnlose Freude am Spielen, die gewiss zu den von Bakunin so gelobten „Bedürfnissen“ gehört, „die das Leben selbst ans Tageslicht bringt“.

Interessant sind vor allem das Zentrum und die Ränder der Welt. Im Zentrum steht ein verborgenes Schloss, am Rande werden Ziegenkämpfe geführt und auch der Satanismus hat sein Plätzchen. Das Dorf zu verlassen ist für die Ziege schwer; es hindern sie beispielsweise unüberwindlich scheinende Berge.

Das versperrte Paradies

Doch eine wahre Ziege strebt nach Freiheit. Mit Geschick und Geduld kann sie die Hindernisse überwinden. Hinter den Bergen lockt die Großstadt – sie ist zu sehen, aber nicht zu betreten. Der Zutritt wurde schlicht nicht programmiert. Hier werden Ziege und Bakunin endgültig eins. Das Reich der Freiheit vor Augen, werden sie nie hineingelangen. Was bleibt, ist relative Freiheit und ein Bewusstsein, von dem der niederländische Anarchist Rudolf de Jong sagt: „Der Anarchismus schafft schon im Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft eine Gegenkultur.“

Määäh!

Plattform: PC ■ Literatur: Michail Bakunin. „Gesammelte Werke“, Band 1 bis 3. Insbesondere „Gott und der Staat“ in ders., „Staatlichkeit und Anarchie“