TIM CASPAR BOEHME LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Der Spießer trägt Prada

Spießer sind wehrhafte Menschen. Während die Spießbürger des Mittelalters noch echte Waffen trugen, Spieße eben, hat sich das heutige Spießertum längst dem geltenden Waffenrecht angepasst und wehrt sich vielmehr „mental“. Gegen was, ist allgemein leicht zu bestimmen. Im Grunde ist es alles Neue und Fremde, das Spießer auf die Barrikaden ruft. Wie sich das im Konkreten äußert, ist aber, von offensichtlichen Fällen wie Rassismus oder Homophobie abgesehen, nicht immer leicht zu entscheiden.

Ein wenig Orientierung verspricht das Buch „Der moderne Spießer“ (Tropen Verlag, 2014) der Journalisten Charlotte Förster und Justus Loring. Die Autoren leben nach eigener Auskunft „im Epizentrum des modernen Spießertums – Berlin-Prenzlauer Berg“. Dass sie sich als „bekennende Neospießer“ outen, ist ein selbstironischer Hinweis darauf, dass man es bei dem Thema immer auch mit dem inneren Feind zu tun hat. Schließlich verläuft die Grenze zwischen der notwendig begrenzten geistigen Perspektive jedes Individuums und den Beschränkungen, die man sich beim Denken freiwillig auferlegt, ziemlich fließend.

„Was ist spießiger? Tennissocken in Sandalen zu tragen – oder sich darüber zu mokieren?“, fragen Förster und Loring und geben sich überzeugt, dass ein „unspießiges Leben“ eigentlich unmöglich ist. Diese Einsicht wird in wiederholten Anläufen veranschaulicht. Zunächst führen sie diverse Typologien auf, seien es spießige Nachbarn oder Checklisten zur Selbst- beziehungsweise Fremdprüfung. Diese wirken in ihrer Holzschnittartigkeit etwas ernüchternd: Da gibt es den „Gartennachbarn“, der sich am stinkenden Komposthaufen vom Grundstück nebenan stört, oder den „Müllnazi“, der mit Gewalt für korrekte Abfalltrennung im Mehrparteienhaus sorgen will. Neospießer erkenne man daran, dass sie stolz auf ihre Facebook-Freundschaft mit Karl-Theodor zu Guttenberg seien, dass sie bei Manufactum einkaufen, gern ins Programmkino gehen oder die Toten Hosen für Punk halten.

Zur Einfallslosigkeit der aufgelisteten Indizien kommt ein biederer Humor, bei dem es selten wirklich bissig zugeht. Und dass die Autoren bevorzugt Beispiele aus dem gut situierten Bürgertum liefern, mag auf ihren Lebensraum (Prenzlauer Berg) zurückzuführen sein, schließt jedoch große Teile der Bevölkerung – auch als Adressaten ihres „Ratgebers“ – von vornherein aus. Dem Buch einen spießigen Blick auf seinen Gegenstand vorzuwerfen erscheint angesichts der Selbstbezichtigung seiner Verfasser recht müßig. Mehr Witz und ein schärferer Blick gerade in der Selbstbeobachtung hätten gleichwohl gutgetan. Dafür empfiehlt sich der Band mit schöner Gestaltung, was besonders für die im 50er-Jahre-Stil gehaltenen Illustrationen Henry Büttners gilt. So ist „Der moderne Spießer“ am Ende kaum mehr als das, was der Klappentext augenzwinkernd anpreist: „ein entzückendes Mitbringsel für jede Gelegenheit“.

■ Der Autor ist ständiger Mitarbeiter der Kulturredaktion