SÜDAMERIKAS STAATSCHEFS STREITEN ÜBER DIE INTEGRATION
: Die EU ist kein Modell

Man wolle nicht wie Europa 50 Jahre lang auf die Einigung warten, so Brasiliens Präsident Lula auf dem Südamerika-Gipfel im bolivianischen Cochabamba. Venezuelas Hugo Chávez vermisste ein gemeinsames Projekt. Am Ende von Lateinamerikas Superwahljahr sind die Voraussetzungen für soziale Fortschritte, die aus regionaler Zusammenarbeit erwachsen, besser denn je zuvor.

Dass sich der Kontinent zu sehr am bürokratielastigen, wirtschaftsliberalen Modell der EU orientieren sollte, bezweifelt mittlerweile aber nicht nur Chávez. Bestimmt wies er die Anregung seines Freundes Evo Morales zurück, wieder in die Andengemeinschaft zurückzukehren, in der die US-orientierten Länder Kolumbien, Peru und Chile den Ton angeben. Aber auch Lula bekam sein Fett weg: Selbst das Wirtschaftsbündnis Mercosur, in das Venezuela vor einem Jahr aufgenommen worden war, bezeichnete Chávez in seiner jetzigen Form als ein Instrument für die Oberschicht. In den geplanten Megaprojekten der „Südamerikanischen Infrastruktur-Initiative“, einem Steckenpferd des Brasilianers, macht er ebenso wie die parallel tagenden Basisbewegungen eine „neokoloniale Logik“ aus.

Chiles Präsidentin Michelle Bachelet wiederholte das sozialdemokratische Mantra von den „Chancen und Risiken“ der Globalisierung, Alan García aus Peru verteidigte die Freihandelsabkommen mit den USA. Der Argentinier Néstor Kirchner reiste erst gar nicht an. Immerhin begruben García und Chávez demonstrativ das Kriegsbeil. Doch mit dem Sozialgipfel wollten die meisten Würdenträger nichts zu tun haben, sogar ein bescheidener Hinweis wurde aus ihrer Schlusserklärung getilgt.

Am erfolgversprechendsten bleiben konkrete Projekte wie der LTV-Sender Telesur oder die Bildungs- oder Gesundheitshilfe, die Kuba und Venezuela in Bolivien leisten. Denn solange in den meisten Ländern Südamerikas Agrobusiness und Finanzkapital den Kurs vorgeben, wird eine sozial geprägte Integration nur im Schneckentempo vorankommen. Immerhin: Dass Präsidenten darüber live im Fernsehen streiten, ist bereits eine kleine Revolution. GERHARD DILGER