Steinmeier gibt der Kanzlerin einen Rat

In der großen Koalition ist der Streit über die Türkeipolitik offen ausgebrochen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt Angela Merkel (CDU) vor „unangemessenen Reaktionen“. Die Union wiederum verbittet sich Steinmeiers Ratschläge

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Wie soll die EU weiter mit der Türkei umgehen? Die Beitrittsverhandlungen verlangsamen? Sie teilweise aussetzen? Oder soll die Europäische Union Ankara gar mit einem Ultimatum drohen? Wenn sich die 25 EU-Außenminister auf ihrem heutigen Treffen in Brüssel nicht auf einen gemeinsamen Kurs verständigen, dann droht ein offener Konflikt über das weitere Vorgehen in der Türkeifrage. Auszutragen hätten ihn die europäischen Staats- und Regierungschefs, die sich Ende der Woche zu ihrem Gipfel in Brüssel treffen.

Die Nervosität in allen europäischen Hauptstädten wächst – auch in Berlin. In der großen Koalition ist der schon lange schwelende Richtungsstreit über die Türkeipolitik am Wochenende offen ausgebrochen. Auslöser ist ein Spiegel-Interview von Frank-Walter Steinmeier (SPD). Darin unterstreicht der Außenminister die prinzipielle Bedeutung der Türkeifrage: „Wir Europäer haben ein großes Interesse daran, dieses große Land als Brücke zwischen christlichem Abendland und der arabisch-islamischen Welt in den europäischen Wertekanon einzubeziehen.“

Und gerade wegen dieser herausragenden Bedeutung warnt Steinmeier vor überzogenen oder gar hysterischen Reaktionen der Europäer gegenüber Ankara, das sich nach wie vor weigert, seine Häfen und Flughäfen für Transporte aus Zypern vollständig zu öffnen: „Wir dürfen nicht in einem Maße überreizen, dass der Annäherungsprozess, für den wir viele Jahre gebraucht haben, in einer Woche zu Fall gebracht wird.“ Bei aller diplomatischen Zurückhaltung – diese Sätze des Außenministers sind auch ein Schuss vor den Bug der Kanzlerin. Angela Merkel (CDU) hatte in den zurückliegenden Tagen mehrfach darauf gedrungen, dass die sture Haltung der Türkei gegenüber dem EU-Mitglied Zypern nicht folgenlos bleiben dürfe. Ihr Vorschlag, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei von den europäischen Staats- und Regierungschefs vor der Europawahl 2009 überprüfen zu lassen, wurde als eine Art Ultimatum verstanden. Darauf antwortet Steinmeier jetzt ganz hinterlistig, in dem er ein Gespräch mit der Kanzlerin über die Türkeipolitik öffentlich macht. „Ich habe ihr Argumente genannt“, so der Außenminister, „die dafür sprechen, auf unangemessene Reaktionen zu verzichten. Sollte sich die Türkei von Europa abwenden, wäre dies ein schwerer strategischer Verlust für die EU.“

Das Merkel-Lager hat diese Sätze schon ganz richtig verstanden. Und so antwortet Volker Kauder, Fraktionschef der Union und Vertrauter der Kanzlerin, dem Außenminister in deutlichen Worten. „Die Hinweise von Herrn Steinmeier sind völlig unnötig“, so Kauder. Die Bundeskanzlerin habe sich in der Türkeifrage „klug und konsequent“ verhalten. „Ich warne die SPD davor, falsche Signale an die Türkei zu senden.“ Noch einen Schritt weiter ging der bayerische Ministerpräsident. Edmund Stoiber forderte gestern zum wiederholten Male einen vollständigen Abbruch der Beitrittsgespräche mit Ankara – so lange „bis sich die Türkei an die Verträge hält“.

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