IM IMBISS: Radikale Jugend
Wir hatten uns für politisch korrektes Schnellessen entschieden. Setzten uns wie gewohnt ans Fenster, um geschützt zu sein und Leute zu beobachten. Ein gemischtgeschlechtliches Paar arbeitete gleichzeitig an den Bratstellen und an der Kasse. „Wir verwenden Rapsöl“, stand auf einem Schild, als ob damit irgendetwas gesagt wäre.
Dilara hatte sich für einen hausgemachten Burger entschieden. Sie hielt mir ihre Gabel hin. Und dann erklärte sie mir, was eine Rollkur ist. Und begann, aus ihrer Jugend zu erzählen.
Als sie radikal war, hatte sie eine vegetarische Phase. Sie verzichtete trotz ihrer Herkunft, südöstliches Europa, untere Mittelschicht, auf jegliches Fleisch. Es war nicht einfach, nicht wegen der Gewohnheit, sondern wegen der Umstände. Sie hatte kaum Geld. Sie konnte nicht kochen. Sie aß in Garküchen. Fleischloses, minderwertiges Zeug. Sie wurde wütend und unvorsichtig. Wenn sie in einen Vegiburger biss, stellte sie sich Anschläge auf Schlachthöfe vor. Leere, brennende Ställe. Bombendrohungen an Milchviehhalter. Als sie radikal war. Radikal. Eine freie Radikale.
Was sie mürbe machte, war die aufkommende Einsicht in Vergeblichkeit. Und die Leere. Und die Sinnlosigkeit des Lebens. Alles schien verdreht. Wo sie Verbindlichkeit wünschte, bekam sie Unverbindlichkeit. Wo sie Unverbindlichkeit wollte, kamen Forderungen und Erwartungen. Es machte sie krank. Wenn das Leben sinnlos war, sagte sie, war es egal, ob man sich selbst oder der Umwelt schadete oder nicht. Wenn das Leben sinnlos war, sollte man wenigstens die schmutzigen Dinge genießen.
Fortan schleuste sie wieder Kühe durch ihren Magen. Die Gewohnheit, das Praktische, die Sinnlosigkeit hatten gesiegt. Solange Tiere angeboten werden, werden sie verzehrt, sagte sie sich. Solange sie gegessen werden, werden sie angeboten, sagte ich zustimmend. RENÉ HAMANN
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