In der Mitfreu-Lücke

In Kreuzberg hieß es zeitgleich mit dem Festakt in Stockholm: „Wir sind Literatur-Nobelpreisträger!“ Im Überschwang des neuen Wir kam das Interessante etwas zu kurz

So schnell kann das gehen. War der Wrangelkiez vor wenigen Wochen noch quasi Afghanistan, harrend auf den ordnenden Eingriff der Armee, hatte er sich am Sonntag gänzlich verwandelt: „Wir sind Literaturnobelpreisträger!“, so schallte es am Nachmittag begeistert aus dem Lido an der Schlesischen Straße, wo zeitgleich mit der Zeremonie in Stockholm eine Lesungshommage an Orhan Pamuk stattfand. Eine illustre Crowd aus deutsch-türkischem Establishment, Radio-Multikulti-Hörern und Literaturfans hatte sich versammelt. Christian Ströbele aus dem Bundestag saß in der ersten, Cem Özdemir aus Brüssel in der zweiten und Özcan Mutlu aus dem Berliner Abgeordnetenhaus in der dritten Reihe. Die Diskokugel, die sonst im Lido meist taufrische Indiebands bescheint, schien sich für den Anlass ein wenig zu schnell zu drehen.

Vom euphorisierten Wollen zum Wir ließ sich dadurch niemand abhalten. Mit Pamuk sollte das „Wir sind Papst“ gesprengt und ein größeres, entgrenzteres Wir hergestellt werden. Die RBB-Redakteurin und Moderatorin Zonya Dengi behauptete gar: „Der Nobelpreis gehört hierher“ – als ob Berlin jetzt die Mitfreu-Lücke füllen müsse, die die sich in Teilen ablehnend verhaltende Intelligenzia Istanbuls gerissen hat. Was dabei herauskam, war sehr nett und ehrlich affiziert, aber etwas einfach im Ansatz.

Es wurde aus Pamuks Büchern vorgelesen, es wurden Kinderfotos und Bosporusansichten gebeamt und ein paar Anekdötchen gestreut. Der Krimiautor Jürgen Ebertowski („Knabenlese“) war da, um über seine Spaziergänge mit Pamuk durch Kreuzberg zu berichten. Die können allzu ausschweifend nicht gewesen sein. Man erfuhr, dass Pamuk gern am Landwehrkanal entlanggeht, wenn er bei Freunden im Graefekiez zu Gast ist, und Berlin ansonsten zum Besuch merkwürdiger Museen nutzt.

Die Schauspieler Tayfun Bademsoy, Ilknur Bahadir und Jale Arikan lasen Pamuk-Passagen vor, deren Auswahl etwas willkürlich wirkte. Aber schön und poetisch waren sie natürlich. Interessanter war trotzdem, sich vor Augen zu halten, dass der Berufseinstieg für deutschtürkische Schauspieler ohne „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ ein schwieriger wäre. Der Schriftsteller Ulrich Peltzer („Bryant Park“) brachte die beschworene Liaison Pamuk/Berlin ein wenig in Erklärungsnöte: Er hatte noch kurz vor dem Lesenachmittag einen Dönerdealer in Prenzlauer Berg aufgesucht, um sich in Sachen korrekte Aussprache Istanbuler Stadtteile briefen zu lassen. Als der Imbissmann den Anlass der Peltzer’schen Wissbegierde erfuhr, nölte er voller Abscheu: „Aha, Orhan Pamuk.“ Peltzer will da jetzt nicht mehr Döner essen. Im Saal wurde darüber hinweggeschmunzelt.

Zu stark war der Wunsch, eine im Vergleich zu Stockholm sympathischere und weniger steife Festaktigkeit zu zelebrieren. Dabei fiel eben der eigentlich interessante Punkt unter den Tisch: Was bedeutet der Nobelpreis und was Pamuk für die Türken in Deutschland, für die Deutschtürken, für die Deutschen, für Kreuzberg, für Berlin? Dazu hätte man sich vielleicht andere Passagen aus dessen Oeuvre vorknöpfen können, die Stellen aus „Schnee“ zum Beispiel, die das alles andere als easybeasy Verhältnis von islamisch-traditioneller und europäisch-säkularisierter Weltsicht erörtern.

Man zog aber reizende Fotos von Pamuks gediegen geschmückter Mutter und ihm auf mit Spitzendeckchen verzierten Sofas vor. Als in der Pause live und tonlos aus Stockholm gestreamt wurde, sah man Königin Silvia massiv mit Juwelen dekoriert und einen Orhan Pamuk, der etwas schief grinste über seiner etwas schief sitzenden Fliege. In beiden Sälen wurde begeistert geklatscht. KIRSTEN RIESSELMANN