„Persönlich erwarte ich nichts mehr“

BLICK IN DIE ZUKUNFT Die Autorin Elfriede Brüning ist 100 Jahre alt. Mit 99 fuhr sie noch Auto

■  Mit dem Jahreswechsel hat auch ein neues Jahrzehnt begonnen. Die taz nimmt das zum Anlass, gleich zehn Jahre vorauszuschauen. Wie wird Berlin sein im Jahr 2020? Werden wir von Touristen überrollt? Wird sich die Arbeit ohne Industrie ändern? Was wird aus den Bürgerbewegungen? Und was aus dem Verkehr? Wie entwickelt sich die Kultur?

■  Die taz hat sich umgeschaut, Experten gefragt – und ganz normale Berliner. Die Antworten präsentierten wir in unserer Serie „Berlin 2020“. Mit dem heutigen Ausblick durch einen pessimistischen Autor und zwei optimistischen älteren Damen endet die Serie. (taz)

In meinem Alter lebt man nicht mehr richtig in dieser Zeit. Ich bemühe mich, so viel wie möglich am Geschehen teilzuhaben, beziehe zwei Zeitungen, sehe die Nachrichten. Auch Lesungen aus meinen Büchern mache ich noch. Aber die Vergangenheit interessiert mich mehr.

Dadurch, dass ich 28 Bücher geschrieben habe, hatte ich kaum Zeit, selbst viel zu lesen. Das versuche ich jetzt nachzuholen. Augenblicklich lese ich „Anonymus“. Zuvor dachte ich, dass sei so ein Reißer. Aber ich bin von dem Buch ganz angetan. Man fühlt sich in die letzten Kriegstage zurückversetzt.

Wenn man so will, habe ich ein Jahrhundert deutsche Geschichte erlebt. Von allen Epochen beschäftigt mich das Dritte Reich am meisten, das war die schlimmste Zeit. Als Antifaschistin war ich in der inneren Emigration, völlig isoliert. Ich wurde auch von der Gestapo verhaftet, wegen Vorbereitung zum Hochverrat, und saß ein halbes Jahr in Einzelhaft im Frauengefängnis Barnimstraße.

Heute bin ich Mitglied der Linken, zu den Parteitagen gehe ich aber kaum noch. Der Diskussion zu folgen, fällt mir schwer. Meine Ohren machen nicht mehr mit. Auch sonst bin ich körperlich beeinträchtigt, ohne meinen Rollator komme ich nicht mehr klar. Aber was noch schlimmer ist: Ich kann nicht mehr Auto fahren. Dabei bin ich so gerne gefahren! Vor einem Jahr habe ich den Führerschein abgegeben, auf leisen Druck von Nachbarsleuten. Ich habe mein Auto zwar noch und Leute, die mich chauffieren. Aber abhängig sein gefällt mir nicht.

Mein letztes Buch „Gedankensplitter“ ist 2006 erschienen. Ich habe viel aus eigenem Erleben geschöpft. Jetzt schreibe ich nicht mehr. Am 8. November haben wir im Roten Salon der Volksbühne meinen 100. gefeiert. Es war wunderschön.

Nach vorne zu blicken fällt mir schwer. Natürlich hoffe ich auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Aber ich persönlich erwarte nichts mehr. Allmählich könnte Schluss sein.PROTOKOLL: PLU Foto: privat