Pflichtbesuch beim Kinderarzt

Hamburg und die anderen Nordländer drängen die Bundesregierung, einen Zwang für die Kinder-Vorsorgeuntersuchungen einzuführen. Der soll helfen, vernachlässigte Kinder zu identifizieren

von KAIJA KUTTER

Von den fünf schweren Fällen, die vor einem Jahr in Hamburgs „Sonderausschuss vernachlässigte Kinder“ aufgearbeitet wurden, hatten alle eines gemein: „Die Kinder waren nicht zu den regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 beim Kinderarzt erschienen“, erinnert SPD-Ausschussmitglied Dirk Kienscherf. Würde man diese „U‘s“ verbindlich machen, so Kienscherf, hätte man „ein wichtiges Mosaiksteinchen“, um verwahrloste Kinder zu retten.

Die zuständige Hamburger CDU-Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram startete im Januar eine Bundesratsinitiative, die im Mai zu einem Bundesratsbeschluss führte. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, die notwendigen Regelungen für ein „verbindliches Einladungswesen“ zu schaffen. Bei Eltern, die sich den „U‘s“ entziehen, sollten die Daten via Krankenkassen an den öffentlichen Gesundheitsdienst gehen.

„Die Regierung hat sich fünf Monate Zeit für ihre Antwort gelassen und nicht bewegt“, berichtete gestern Hamburgs Gesundheitsstaatsrat Dietrich Wersich. Deshalb werde Hamburg „noch mal nachlegen“ und am Freitag einen neuen Antrag mit detaillierten Vorschlägen in den Bundesrat einbringen. Der Antrag wird von Bremen und Schleswig-Holstein unterstützt. Auch Niedersachsen ist dafür: Jugendämter müssten „beim Fernbleiben näher hinsehen“, wie Ministeriumssprecher Thomas Spieker erklärt.

Der Druck auf den Bund wächst also. Dessen Ende November eingegangene Stellungnahme spiegelt Bedenken und Unbehagen wieder, die es auch in weiten Teilen der Fachwelt zu den Pflichtuntersuchungen gibt. „Sie bergen die Gefahr, dass wir uns in falscher Sicherheit wiegen“, sagt Familienministeriumssprecher Hanno Schäfer. Entscheidend sei, was zwischen den „U‘s“ passiere. Eltern, die ihre Kinder misshandeln, wüssten sehr wohl, wie sie das verbergen könnten: „indem sie ihre Kinder vor der Untersuchung nicht mehr schlagen“.

Zwar teilt der Bund die Ansicht, dass die Nichtteilnahme an der U‘s ein „Indiz“ für mangelnde Fürsorge sein kann. Eine Verankerung der Untersuchungspflicht im Sozialgesetzbuch schiede aber „aus verfassungsrechtlichen und grundsätzlichen“ Erwägungen aus. Eltern, die nicht wollten, dass ein Arzt ihr Kind sieht, entzögen sich „auch unter Zwang den Untersuchungen“, heißt es weiter in der Stellungnahme.

Die Bundesregierung hält es allerdings für „sinnvoll und zweckmäßig“, wenn die Länder und Kommunen ein „mit Rückmeldemechanismen ausgestattetes Einladungswesen“ organisierten, ausgehend vom „öffentlichen Gesundheitsdienst“, weil nur dort im Sinne von aufsuchender Hilfe gehandelt werden könne.

Ein Modell, das das Saarland gerade vorexerziert. „Wir führen eine Screening-Zentrale ein, die alle U-Untersuchungen erfasst“, berichtet Sozialministeriumssprecher Stephan Kolling. In die gelben Untersuchungshefte, die Eltern bei Geburt des Kindes bekommen, werden Strichcodes geklebt, die der Arzt bei der Untersuchung einscannt und an die Zentrale weiterleitet. Kolling: „Wenn die Eltern den Termin nicht wahrnehmen, schreiben wir sie an. Kommen sie dann auch nicht, werden die Ämter aktiv und schauen sich das Kind an.“ Damit sie das auch können, würde für 1,5 Millionen Euro Personal aufgestockt.

Eine Lösung, die auch Hamburg Sozialsenatorin inzwischen für denkbar hält. Anfang 2007 werde sich zeigen, „ob der Bund sich bewegt“, sagt Schnieber-Jastram. Tue er das nicht, werde Hamburg eine landeseigene Regelung treffen.