Rückschlag für den Friedensprozess

TÜRKEI Bei gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der türkischen Armee und kurdischen Demonstranten in der Nähe von Diyarbakir werden zwei Menschen getötet und Dutzende verletzt

ISTANBUL taz | Nach gut eineinhalb Jahren Waffenruhe in den kurdischen Gebieten der Türkei ist es wieder zu schweren Zusammenstößen zwischen der Armee und kurdischen Demonstranten gekommen. Zwei kurdische Männer wurden dabei von Soldaten getötet und etliche weitere schwer verletzt. Es gab aber auch drei schwerverletzte Soldaten.

Mit den Zusammenstößen droht der sowieso schon auf Sparflamme heruntergedrehte Friedensprozess zwischen der Regierung und der kurdischen PKK-Guerilla vollends zum Erliegen zu kommen. Damit wäre das letzte Projekt, das Premier Tayyip Erdogan in der EU noch eine gewisse Anerkennung verschafft hat, ebenfalls gescheitert.

Auslöser der Zusammenstöße ist der Bau neuer Militärstationen in den kurdischen Gebieten, die nach Auffassung der PKK und den kurdischen Parlamentsparteien BDP und HDP den Intentionen des Friedensprozesses völlig widersprechen. Zu den tödlichen Schüssen kam es in Lice, einem Ort nördlich der Kurdenmetropole Diyarbakir, der als Hochburg der PKK gilt. Dass das Militär ausgerechnet dort eine neue Station baut, gilt bei den Kurden als gezielte Provokation.

Bei der Demonstration anlässlich der Bestattung eines der Opfer in Diyarbakir kam es dann zu einem weiteren Zwischenfall, der die türkischen Parteien erregt. Demonstranten drangen auf das Gelände der Luftwaffe ein und holten dort die türkische Fahne vom Mast. Eine maximale Provokation für die türkischen Nationalisten. Erdogan drohte am Dienstag mit Vergeltung und Bestrafung der Soldaten, die diesen Akt der Verunglimpfung der Fahne zugelassen hätten. Die Jugendorganisation der ultrarechten MHP, die Grauen Wölfe, gingen das erste Mal nach Jahren wieder auf die Straße und griffen kurdische Wohnviertel an. In etlichen Städten im Osten und Westen des Landes kam es zu militanten Demonstrationen von Nationalisten und Kurden.

Um die Situation zu entschärfen, reiste am Montag eine Delegation der BDP und HDP zu dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan, von dem anschließend eine Botschaft verlesen wurde. Darin ruft Öcalan zur Besonnenheit auf und erteilt allen bewaffneten Aktionen erneut eine Absage.

Es ist allerdings fraglich, ob die derzeitigen Kommandanten der PKK noch auf Öcalan hören. Zunächst forderten sie, endlich selbst mit ihrem historischen Führer sprechen zu können und nicht nur Botschaften der kurdischen Parlamentarier überbracht zu bekommen. Gleichzeitig wurde in einer Stellungnahme aus dem Hauptquartier der PKK aber die kurdische Jugend wieder zu den Waffen gerufen. Man habe lange genug vergeblich darauf gewartet, dass die Regierung den Kurden entgegen komme. Öcalan fordert seit Monaten, dass die Regierung einen gesetzlichen Rahmen für die Friedensgespräche schafft und eine Dezentralisierung der politischen Zuständigkeiten beschließt, so dass sich die Kurden zumindest teilautonom organisieren können.

Zwei Monate vor den Präsidentenwahlen in der Türkei ist Ministerpräsident Erdogan jedoch politisch in einer Zwickmühle. Gibt er dem kurdischen Druck nach, verliert er die Nationalisten. Tut er nichts, werden die Kurden ihn nicht wählen. Um überzeugend zu gewinnen, bräuchte Erdogan aber die Stimmen aus beiden Lagern.

JÜRGEN GOTTSCHLICH