FLUCHT AUS KREUZBERG
: Der Koffer

Mit dem Auto kommen wir aus dem Viertel nicht mehr heraus

Nadja ruft aus Paris an. Sie steht gerade am Gare de Montparnasse und sagt: „Oh Gott, hier laufen Militärs mit Maschinenpistolen herum.“ Ich sage: „Die sollten mal hier in Kreuzberg ein bisschen herumlaufen, um die Touristen zu erschrecken.“ Die fallen nämlich gerade in Kreuzberg ein. Präzise habe ich meine Flucht über Pfingsten geplant, um dem Ansturm von einer halben Million Menschen zu entgehen, die auf dem „Karneval der Kulturen“ anderen verkleideten Menschen dabei zuguckt, wie sie herumhampeln, und auf der sich z. B. ein Tierschutzverein für den Tierschutz engagiert, was ich wegen der paar Tiere in der Hasenheide jetzt übertrieben finde.

Aber meine Flucht ist nicht präzise genug geplant. Als ich mit Fup aufbreche, müssen wir feststellen, dass wir mit dem Auto aus dem Viertel nicht mehr herauskommen. Der Bus fährt auch nicht mehr. Sagt der freundliche Polizist, der leider ohne MP herumläuft. Wir müssen uns zur U-Bahn-Station Südstern durchschlagen.

Mich befällt die gleiche Panik wie die Menschen, die sich in Hollywood-Filmen wegen irgendwelcher Viren oder Strahlen auf der Massenflucht befinden. Und deshalb vergesse ich meinen Koffer auf dem Bahnsteig. Fup schreit: „Der Koffer, der Koffer, der Koffer!“ Aber erst beim dritten Mal begreife ich, was Fup meint, und hole schnell das vergessene Gepäckstück. Eigentlich schade, denke ich und stelle mir vor, wie wegen des herrenlosen Koffers die ganze Gegend abgesperrt worden wäre, um ihn dann zu sprengen. Aber dann hätte ich vermutlich eine Rechnung über den Polizeieinsatz bekommen. Die Flucht aber war teuer genug, denn als wir wieder nach Hause kommen, habe ich keinen Hausschlüssel mehr und muss den Schlüsseldienst rufen. Wie sich herausstellt, hat Fup den Schlüssel aus meiner Tasche geklaut und in der Wohnung versteckt. Fup sagt: „Ich war’s nicht.“ KLAUS BITTERMANN