„Fußball ist kein Volkssport mehr“

„Ich bewundere die Brasilianer, die im Juni 2013 auf die Straße gingen. Ich war gerade erst in Porto Alegre angekommen. Bildung, Gesundheit, öffentliche Verkehrsmittel wurden gefordert, alles wichtige Anliegen, statt Geld für Stadien auszugeben.“ Selbst am Telefon ist die Begeisterung der engagierten 56-Jährigen zu spüren.

Nur nicht über die WM: „Der sehe ich sehr skeptisch entgegen. Es herrscht eine unsichere Spannung, weil man nicht weiß, wie sich die Dinge entwickeln. Am besten kann man es vielleicht mit einem Bild ausdrücken, das ich täglich sehe: Rund um das renovierte Beira-Rio-Stadion des Fußballclubs Internacional sollten mehr Parkplätze entstehen – jetzt liegt dort der Bauschutt des Stadions. Was wird passieren? Viele sagen: Die WM gehört der Fifa, das Stadion dem Sport Club Internacional – und der Müll soll von der öffentlichen Hand entsorgt werden? Das würde bedeuten, dass die Gewinne privatisiert, die Kosten aber der Allgemeinheit aufgebürdet werden.“

In São Paulo hat sie die WM 1994 erlebt. Brasilien wurde Weltmeister. Auch 1998 war die Stimmung gut, bis Brasilien im Endspiel gegen Frankreich verlor. „Wenn Brasilien früh ausscheidet, wird es schwierig für die Regierung. Gerade deshalb sagen viele, es sei besser für das Land, wenn Brasilien verliere.“ Fußball sei nicht mehr der Volkssport wie einst. Die Stadien mit ihren VIP-Bereichen seien für die meisten Brasilianer nicht mehr zugänglich: „Das ist ein Rückschritt zu den Anfängen, als Fußball ein Sport der Eliten war.“

Derzeit wende sich die Stimmung eher positiv. Zum Protesttag am 15. Mai hatten sich über Facebook 1.600 Teilnehmer angekündigt, es kamen 100.

■ Marina Ludemann, 56 Jahre, seit 2013 Leiterin des Goethe-Instituts in Porto Alegre