„Gewalt als Wunsch nach Harmonie“

„Ich liebe Brasilien, unsere Kultur, unseren Fußball. Unsere Kultur spiegelt sich in unserem Fußball. Wir erfinden den Fußball immer wieder neu. Wir ziehen die Kunst dem Tor vor.“ José Carlos Capinan ist ein Intellektueller wie aus dem Bilderbuch, mit dick umrandeter schwarzer Brille, weißem Haar und Bart. Er leitet das Museu Nacional da Cultura Afro-Brasileira in Salvador (Bahia).

„Der Fußball ist ein großer Katalysator“, sagt er. „Die Copa enthüllt ein Brasilien, das wir uns nicht vorstellen konnten. Das Brasilien der Proteste, der Unzufriedenen, des Konflikts. Gewalt ist nicht die Essenz unserer Gesellschaft, sondern der Wunsch nach Harmonie. Umso mehr treffen uns die Nachrichten der Proteste. Es ist die vorweggenommene Leidenschaft.“

Der 73-Jährige gehörte zur Generation der Tropicalisten, die ihren Protest gegen die Militärdiktatur in Musik und Worte fassten. Mit Gilberto Gil komponierte er den Song „Soy loco por ti, America“, den Caetano Veloso 1968 auf seinem ersten Album aufnahm. „Alle glauben, dass wir wieder Weltmeister werden. Es gibt kein Fest, das mehr durch Leidenschaft geprägt wird. Millionen von Menschen, die in die Mittelschicht aufgestiegen sind, möchten teilnehmen. Durch den Fußball erwacht ein neues Brasilien. Dafür zahlen wir gerade die Rechnung.“

Und er fügt an: „In den letzten 500 Jahren wurden die Strukturen unserer Gesellschaft selten so infrage gestellt. Wir finden die Antworten nicht mit der nötigen Geschwindigkeit. Die Bedeutung des Fußballs ist so groß, dass die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen unseres Landes ausgetestet werden. Es ist der Moment der Prüfung des Markts, der Bürgerrechte, der Kultur. Die Copa ist ein Test des neuen, modernen Brasiliens.“

■ José Carlos Capinan, 73 Jahre, Dichter und Komponist