Buchhändlers Nächte sind lang

Zu Zeiten, zu denen man eigentlich Bücher lesen sollte, kann man jetzt noch welche kaufen: Passend zum Weihnachtskaufrausch haben große Geschäfte ihre Öffnungszeiten bis tief in die Nacht erweitert. Doch wer tummelt sich dort? Und wie reagieren die VerkäuferInnen? Ein Besuch

VON HELMUT HÖGE

„Lange Arbeitstage, kurze Nächte – das ist was für Bauernknechte“, scherzte mein erster landwirtschaftlicher Arbeitgeber, wenn ich allzu unausgeschlafen wirkte. Dies gilt bald auch für Buchverkäufer. Der altehrwürdige Buchladen als Kulturträger hat sich in ein „Kulturkaufhaus“ verwandelt, so wie der Niedersachsenhof „meines“ Bauern in eine moderne Schweinemastanlage.

Aber als ich vergangenen Freitag um zwei Uhr nachts zum Buch-, CD- und Computerprogrammhändler Dussmann in der Friedrichstraße ging, war dem gar nicht so. Es waren nur wenige Kunden zum wöchentlichen Rund-um-die-Uhr-Shopping da: Nachtschwärmer, die in Prachtbildbänden blätterten, und mindestens ein Doktorant, der in der vierten Etage bei den Philosophien und Naturwissenschaften „eine Pause“ machte, bevor er sich zu Hause wieder an seinen Schreibtisch setzte.

Auch die Buchhändlerinnen nutzten die ruhige Nacht zum Lesen. Einige spielten im Café-Vorraum Tischfußball. Aufgebaut hatte das eine Eventagentur, extra für diese „langen Nächte während des Weihnachtsgeschäfts“, die Ladenchef Peter Dussmann als „Ladenschluss-Killer-Party“ bezeichnete. Trotzdem: Ich begriff, dass es sich bei den Buchhändlerinnen noch immer um Überzeugungstäterinnen handelt – sie sind nicht einfach Verkäuferinnen von irgendwas.

Daraus schlussfolgerte ich, dass der Dussmannchef einen großen Unterschied macht zwischen seinen prekär beschäftigten Massen im Reinigungs-, Wartungs- und Catering-Geschäft und seinen fünf Dutzend „Kulturbeauftragten“ im „Kulturkaufhaus“.

Erstere hatte ich immer wieder in Ostdeutschland auf Großbaustellen, zum Beispiel denen der Braunkohlekonzerne, angetroffen. Dort standen sie meist verloren in der Kälte und servierten in einem weißen Zelt, angetan mit weißen Schürzchen und Häubchen, missmutigen Arbeitern Bockwurst oder Gulasch. Von Letzteren, den Buchhändlerinnen, erfuhr ich nun beispielsweise, dass sie in Tel Aviv studiert hätten und dass dort viele Geschäfte rund um die Uhr aufhaben. Dort sei es ganz normal, wenn man noch morgens um drei Uhr schnell was einkaufe.

Zwei andere Buchhändlerinnen, die am Computer surften, meinten richtigstellen zu müssen, dass sie nicht von Freitag- bis Sonntagmorgen da sein müssten, es käme ja eine Ablösung. Das Wort „Schicht“ wollte den beiden nicht über die Lippen. Sie wirkten auf mich wie „Followers“ der von den Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo so genannten digitalen Boheme. Deren neues Buch darüber – „Wir nennen es Arbeit“ – lag stapelweise in den Regalen.

Parlieren über Sartre

Das Phänomen ist aber sehr viel älter: Schon der Wagenbach-Verlag setzte während der Studentenbewegung vor allem auf die „silberbestrumpften Buchhändlerinnen“, wie der März-Verleger Jörg Schröder dessen Erfolgsmasche einmal nannte. Schröder kam aus dem Buchhandel. Er meinte damit die noch jungen, aber umso selbstbewusster auftretenden Buchhändlerinnen, die zum Beispiel nächtens im Buchhändlerkeller in der Carmerstraße über Sartre und Pasolini parlierten.

Auch bei Dussmann stellt man gerne Studentinnen ein, die – mit Glück – dann dort sogar die Bücher „ihres“ Fachs verkaufen. Doch das Leporello (Falt-Flugi), das sie als Arbeitsuchende über die „Dussmann-Gruppe“ informiert, wirkt abstoßend: Unter „Freundliche Mitarbeiter und Service rund um die Uhr“ hieß es da: „Sie verkörpern das Konzept, Ihre Qualität macht die Seele des Hauses aus: selbstverständlich hochkompetent, aber in allererster Linie freundlich. Sie dokumentieren in Ihrer Art aufzutreten und sich zu kleiden den Stil des Hauses. Sie sind erfolgsorientiert und flexibel und nicht an starre Vorstellungen wie Ladenschlusszeiten gebunden.“

Gegen Morgen bekamen einige Dussmann-Angestellte dann Besuch von Freunden, die ihr Nachtleben aus-chillen ließen. Nur der Objektschützer – früher Empfangschef genannt – hatte einen traurigen Job. Aber auch er fing irgendwann aus Langeweile an, sich für den Inhalt der Regale zu interessieren.

Auch der Buchhandelskonzern Hugendubel wollte eigentlich zur Vorweihnachtszeit verkaufsoffene Nächte einführen. Aber dann entschied sich die Geschäftsführung, auf Nummer sicher zu gehen. Wo was los ist, also wo auch andere Läden länger aufhaben, sind die Filialen bis 22 Uhr geöffnet. Anderswo – vor allem in den bibliophoben Stadtteilen – lediglich bis 20 Uhr. Auch bei Dussmann gab es im Vorfeld ein derartiges Hin und Her zwischen Großkotzigkeit und Verlustminimierung, am Ende kam eine Regelung heraus, die viele verwirrte. Aber sowohl bei Hugendubel wie bei Dussmann klingeln ungeachtet dessen die Kassen – jedenfalls bis 22 Uhr –, und es bilden sich davor lange Schlangen.

Die ersten beiden Etagen sind voller Kunden, die dritten bei Hugendubel und Dussmann – mit Kinderbüchern – sind dagegen leer. Anscheinend gehen die Kinderbuchkäufer mit der Zielgruppe ins Bett. Umgekehrt werden die obersten Etagen in den beiden Großläden – wo die Naturwissenschaften und die Philosophien stehen (in bescheidener und anspruchsloser Auswahl) – so spät wie möglich von deren Liebhabern frequentiert.

Türken als Trendsetter

Schon überlegen einige philosophisch eingestimmte Berliner Buchhandlungen, sich ganzjährig auf bibliophile Nachtschwärmer einzustellen. Überhaupt ist die „lange Nacht“ bei allen Kultureinrichtungen, Einkaufscentern und Heimwerkermärkten groß im Kommen. In Kreuzberg zumal gibt es eine Vielzahl türkischer Imbissen und Kioske, die die ganze Nacht aufhaben.

Es waren auch Türken, die schon lange vor der Wende das Ladenschlussgesetz unterminierten. Allerdings mit dem Unterschied zu heute, dass sie das Licht im Laden ausmachten, wenn ein Kunde hereinkam – sonst bestand die Gefahr, von ausländerfeindlichen Deutschen angezeigt zu werden. Es war wie beim früher streng verbotenen Betreten der Rasenflächen, mit dem ebenfalls die Türken anfingen. „Wir Deutschen haben das bloß nachgemacht“, weiß eine Kreuzberger Sozialarbeiterin.

Beim offensiven Kampf gegen das Ladenschlussgesetz machte der kecke Kaufhof-Geschäftsführer am Alexanderplatz 1999 den Anfang. Dussmann setzte dann noch einen drauf, indem er kurzerhand 20 Buchhändler zu Prokuristen erklärte. Als „leitende Angestellte“ galt das Arbeitsrecht fortan für sie nicht mehr. Die Gewerkschafter waren empört. Peter Dussmann bleibt dagegen sachlich: „Der Kampf geht weiter. Den Sonntag kriegen wir jetzt auch noch weg.“ Die Hauptstadt-Journaille ist darob so begeistert, dass sie ihm die Bude einrennt. „Ich hatte fast mehr mit Journalisten als mit Kunden zu tun“, meinte eine Verkäuferin.

Seit der Pleite des Buchhändlers Kiepert ist über Thalia, Hugendubel und Dussmann zweifellos nicht nur das intellektuelle, sondern auch das soziale Buchladenniveau ständig gesunken. Auf der anderen Seite gibt es im „Kulturkaufhaus“ das beste Angebot an osteuropäischer Musik, wie mir ein Musikproduzent erzählte, der sich dort gerade CDs anhörte: „Wir haben von einer Aufnahme allein bei Dussmann 400 Stück verkauft – im restlichen Deutschland nur 100.“