Denkwürdige Befunde

Patientenverfügungen sollen für Ärzte verbindlich sein. Diese Forderung steht seit langem schon ganz oben auf der Agendavon Gesundheitspolitikern. Eine Studie jedoch zeigt, dass viele Patienten ihre Meinung ändern, wenn sie schwer erkrankt sind

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

Anfang 2007 will der Bundestag einen neuen Anlauf nehmen, um Patientenverfügungen per Gesetz verbindlich zu machen. In solchen Papieren erklären Menschen, welche lebensnotwendigen Therapien sie kategorisch ablehnen, falls sie später schwer erkranken und nicht mehr fähig sein sollten, ihren Willen selbst auszudrücken.

Die angestrebte Legalisierung, so verbreiten ihre Promotoren, werde von der Bevölkerung gewünscht, auch Demoskopen hätten dies herausgefunden. „Telefonumfragen können eine differenzierende Sozialforschung nicht ersetzen“, schreibt dagegen der Offenbacher Chefarzt und Medizinethiker Stephan Sahm. Er beansprucht, „die bislang einzige empirische Untersuchung in Deutschland“ geleitet zu haben, die Akzeptanz und Einstellungen bestimmter Personengruppen zu Patientenverfügungen vergleicht. Die Ergebnisse, seit einem Monat im Buch „Sterbebegleitung und Patientenverfügung“ nachzulesen, „werden nicht wenige überraschen“, meint Sahm.

„Forschungsprojekt ‚Patientenverfügung‘“ stand über dem 28 Fragen umfassenden Erhebungsbogen, der zwischen August und Oktober 2003 in der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden verteilt wurde. Beantwortet haben ihn 400 Menschen – jeweils 100 Tumorpatienten, gesunde Kontrollpersonen, Pflegende und Ärzte. Rückmeldungen ziehen laut Sahm „in Zweifel“, was die Politik derzeit behaupte: die „Notwendigkeit, eine Regelung zur Stärkung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen treffen zu müssen“.

Auffällig und durch die Studie nachgewiesen sei zum Beispiel ein „Perspektivenwechsel“, der nach Konfrontation mit einer bedrohlichen Krankheit regelmäßig auftrete. So wünschten sich Krebspatienten im Vorhinein „signifikant häufiger belastende Behandlungen wie etwa Chemotherapie und Dialyse“ als gesunde Kontrollpersonen und medizinisches Personal. Mittels Patientenverfügungen erklären Menschen vorsorglich, auf Therapien zu verzichten, etwa Sondenernährung, Beatmung, Gabe von Schmerzmitteln, Antibiotika oder Flüssigkeit in die Vene. Ein „nicht unerheblicher Anteil“ der Befragten habe sich jedoch außer Stande gesehen, über solche Behandlungsoptionen vorab zu entscheiden, das gelte auch für Ärzte und Pflegende. So sei etwa jeder Zweite unentschieden, ob eine Ernährungstherapie stattfinden solle oder nicht. Unter denjenigen, die lebenserhaltende Behandlungen zurückwiesen, seien überdurchschnittlich viele Alleinstehende. Ihre strikte Ablehnung könne, so Sahm, als „Indikator sozialer Isolation interpretiert“ werden und sollte „Anlass sein, soziale Hilfestellungen anzubieten“.

Gefragt nach ihren persönlichen, ethischen Wertvorstellungen, schätzten die meisten Teilnehmer der Untersuchung die Verbindlichkeit der Verfügungen als gering ein, wenn sie die Voraberklärungen anderer Personen beurteilen sollten. Für den Fall eigener Nichteinwilligungsfähigkeit wünscht sich die „überwältigende Mehrheit“ aller Gruppen, dass Angehörige gemeinsam mit Ärzten stellvertretend für sie entscheiden; überwiegend abgelehnt werde dagegen eine Beteiligung von Richtern, Kommissionen und anderen Außenstehenden.

Keineswegs will Sahm als grundsätzlicher Gegner von Patientenverfügungen verstanden werden. Lägen solche Erklärungen vor, sollten Ärzte sie als „Signal“ deuten. Sie sollten dann auf Kranke zugehen und „Gespräche über Behandlungswünsche und das rechte Maß der Behandlung“ beginnen. Praktisch ist dies aber nur möglich, wenn Betroffene noch ansprechbar sind.

Verbreitet sei die Angst vor Missbrauch: So befürchtet die Mehrheit der Befragten, Angehörige könnten Kranke drängen, eine Verfügung zu schreiben; fast jeder Dritte geht davon aus, dass Ärzte die auf Lebensbeendigung zielenden Voraberklärungen auch dann befolgen müssen, wenn die medizinische Prognose eine aussichtsreiche Therapie nahe lege.

Schon vor diesem Hintergrund könne eine gesetzlich festgelegte Verbindlichkeit vorab verlangter Therapieverzichte „kontraproduktiv wirken“, warnt Sahm: „Da die Betroffenen damit rechnen müssen, dass den Instruktionen in einer Patientenverfügung Folge geleistet wird, könnten eher mehr Menschen das Instrument gerade deshalb meiden.“