Bilder im Minutentakt

AUSGELIEFERT Der Fotograf Michael Wolf stellte sich in die Tokioter U-Bahn und fotografierte in die ein- und abfahrenden Züge: „Tokyo Compression“ im Forum für Fotografie Köln

VON MARKUS WECKESSER

Selten hat das Fahren mit der U- und S-Bahn so wenig Spaß gemacht wie in diesem Winter. Wenn endlich mal eine Bahn kommt, dann ist sie garantiert überfüllt und das große Drängeln geht los. In Tokio sind pickepacke voll gestopfte Waggons nichts Ungewöhnliches. Täglich nutzen schätzungsweise 7,8 Millionen Fahrgäste die 13 U-Bahnlinien der japanischen Metropole. Da wird es des Öfteren eng wie in der Sardinenbüchse. Also sehr eng. Es gibt sogar spezielles Personal, das die Fahrgäste in die Abteile drückt. Für Mütter mit Kinderwagen, ältere Menschen oder Rollstuhlfahrer scheint die Benutzung dieses Verkehrsmittels unmöglich.

Auf den Bildern von Michael Wolf, die derzeit im Kölner Forum für Fotografie zu sehen sind, kleben Fahrgäste mit ihrem Gesicht an der Türscheibe wie Welse mit dem Maul an der Aquariumswand. Beim ersten Anblick mag sich der Betrachter kurz eines komischen Moments nicht erwehren. Zu sehr erinnern die deformierten Wangen und Nasen der gequetschten Menschen an inszenierte Spaßbilder. Bloß quetscht sich in der Tokioter U-Bahn niemand freiwillig an die Scheibe. Und zum Lachen ist erst recht keinem zumute. Ist die Wagentür einmal geschlossen, ist die Stellung der Fahrgäste so gut wie fixiert und Bewegung kaum möglich. Nichts für Klaustrophobiker.

Unbegründet ist die Angst vor der engen Röhre indes nicht. Immer wieder sind U-Bahnen Ziele von Terrorakten. In Tokio kamen 1995 durch einen Giftgasanschlag der Aum-Sekte zwölf Menschen in der Metro zu Tode. Die Furcht vor Ansteckung durch Viren wird durch die beengte Situation unter der Erde ebenfalls befördert. Seit der Sars-Epidemie, die sich 2002 von Südchina aus vor allem in asiatischen Raum verbreitete, ist es in Japan nicht ungewöhnlich, sich und seine Mitmenschen in der Öffentlichkeit durch einen Mundschutz vor einer Infektion zu schützen. Für europäische Betrachter wirken die Masken, etwa auf Wolfs Bildern, dennoch befremdlich.

Die Geschäftskleidung der Porträtierten legt nahe, dass die Aufnahmen während der Hauptverkehrszeiten am Morgen und am Abend entstanden sind. Einige Fahrgäste haben die Augen geschlossen, andere gähnen unausgeschlafen oder von der Arbeit erschöpft. Vielleicht versuchen sie auch nur, die Umwelt für einen kurzen Moment auszublenden. Für anderes ist auf dem engen Raum eh kein Platz. Außer Musik zu hören, bleibt den Fahrgästen nichts übrig, als tapfer auszuharren.

Besonders unerträglich muss die Bahnfahrt sein, wenn die Temperaturen steigen oder die Feuchtigkeit an den Scheiben kondensiert. Indes ist der ästhetische Effekt auf Michael Wolfs Bildern famos. Vorhänge von Wassertröpfchen und von Atem beschlagene Glasflächen bewirken Unschärfe und Semitransparenz. Nur verschwommen, maskenhaft und in Ausschnitten sind die Gesichter der Personen zu erkennen. Diese malerische Anmutung, die Michael Wolf dem Zufall verdankt, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklärte Absicht einer neuen fotografischen Stilrichtung.

Um die Fotografie im Kanon der klassischen Künste zu etablieren, manipulierten die Piktorialisten paradoxerweise ihre Bilder im Printverfahren so lange, bis sie kaum noch vom gemalten Bild zu unterscheiden waren. Mit seinen Porträts steht Michael Wolf in einer Tradition, die von Walker Evans bis Loredana Nemes reicht. Nur haben seine Vorgänger zumeist in der U-Bahn fotografiert und einzelne Fahrgäste separat fokussiert. Neu ist der Blick von außen und auf den Mensch in der Menge.

Anstatt die Eingeschlossenen aus der Distanz mit einem Teleobjektiv ins Visier zu nehmen, stellte sich Michael Wolf direkt vor die Waggons und drückte ab. Widerstand zwecklos. Lediglich zwei Personen gelang es, ihre Hände schützend vor das Gesicht zu halten. Von den Übrigen dürften die meisten die Anwesenheit des Fotografen nicht einmal bemerkt haben.

Dennoch läst sich beim Betrachten von „Tokyo Compression“ über Fragen des Rechts am eigenen Bild ebenso trefflich nachdenken wie über Aspekte urbaner Mobilität und das Verhältnis von Individuum und Masse, Nähe und Anonymität. Bitte zusteigen.

Michael Wolf wurde 1954 in München geboren, wuchs aber in den USA auf. Er studierte zunächst in Berkeley und dann Bildjournalistik an der Folkwangschule in Essen bei Otto Steinert. Für seine Examensarbeit dokumentierte er Alltagsszenen in der Bottroper Arbeitersiedlung Ebel. Auszüge der spektakulären Milieustudie zeigt die Ausstellung „Alles wieder anders“ bis September im Essener Ruhrmuseum.

■ Bis 20. Februar, Forum für Fotografie, Köln; Publikation (Peperoni Books Berlin) 28 Euro