Die Vertretertasse

Es musste noch sein. Noch in diesem Jahr. Noch vor Weihnachten. Zweimal war es mir zuvor gelungen, den Versicherungsvertreter zu vertrösten. Diesmal war er hartnäckig geblieben. Hatte etwas von notwendigen Umstellungen, Anpassungen und bestehenden Vertragslücken gemurmelt, die noch vor Jahresende geschlossen werden sollten. Zwei Tage vor Heiligabend hatten wir einen Termin gefunden. Mitten im größten Vorweihnachtstrubel. Ich war nicht begeistert gewesen. Na gut, eine halbe Stunde. Ja, 15 Uhr würde passen.

Viertel vor drei parkte direkt vor meinem Wohnzimmerfenster ein Wagen. Mittelklasse, blankgeputzt. Niemand stieg aus. Vierzehn Minuten dauerte es, bis sich die Fahrertür öffnete und ein junger Mann mit festem Schritt Kurs auf den Hauseingang nahm. Sekunden später schellte die Klingel. Ein zackiger Handschlag, dann war er in meiner Wohnung. Ich bot ihm Lebkuchen an und setzte einen Weihnachtstee auf, der nach Kardamom und Nelken duftet. Wir saßen kaum, da begann er. Ein minutenlanger Vortrag prasselte auf mich nieder. Ein gut geübter Monolog. Alles einstudiert: Effektvolle Betonungen, kurze Pausen, in denen ich zu Wort kommen sollte, eingebaute Witze der Abteilung „Was-haben-wir-gelacht“ zur Auflockerung des Kundenkontakts. Meine offenen Fragen, wegen derer ich ihn hatte kommen lassen, überging er mit einem bündigen „Später!“. Diese Sprechplatte mit Retortengesicht und Gelfrisur war nicht aus dem Konzept zu bringen.

Ich brauchte eine Pause. Durchatmen! Mit einem „Der Tee dürfte lange genug gezogen sein“ unterbrach ich seinen Redefluss und entschwand in die Küche. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mit diesem Roboter in eine Art Dialog kommen konnte, in dem meine Zweifel und Interessen Raum finden würden. Dann fiel mein Blick auf diese Tasse. Mein schönstes Stück. Über dem Ton eine kunstvolle Glasur. Doch leider hatte ich mein Lieblingsgefäß seit Monaten nicht mehr nutzen können. Seit einer ungeschickten Handbewegung meinerseits durchzog das Kunstwerk ein Sprung, fein wie ein Haar und von außen durch die Glasur nicht erkennbar.

Drei Minuten später servierte ich den Tee. Mein Gast bekam meine Lieblingstasse. Diesmal vergaß ich, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, die Untertasse nicht. Kaum hatte ich wieder Platz genommen, da setzte die Platte mit bekannter Umdrehungszahl erneut ein. Dann nahm er einen Schluck. Er hielt die Tasse einen Moment zu lang in seinen Händen. Ich konnte sehen, wie die Teetropfen zwischen seinen Fingern hervortraten und langsam seine Hand hinunterliefen.

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Nestelte in seiner Hosentasche möglichst unauffällig nach einem Papiertaschentuch, um sich die feuchten Finger trocken zu wischen. Inzwischen stand die Untertasse voll Tee. Ich bemühte mich ihn glauben zu lassen, dass ich das Malheur nicht bemerkt hätte. Als ich kurz den Raum verließ – das Handy hatte geklingelt – sah ich noch im Augenwinkel, wie er mit einer ruckartigen Bewegung den Inhalt der Untertasse zurück in sein Trinkgefäß goss.

Fortan hatte die Platte einen Sprung. Sein Hirn suchte fieberhaft nach Erklärungen, warum sich die Untertasse immer wieder füllte. „Trinken sie doch noch einen Schluck, er wird sonst kalt“, forderte ich ihn auf. Höflichkeit ist erste Vertreterpflicht. Er trank, wann immer ich wollte. Und versenkte seine feuchten Finger danach stets verschämt in seiner Hosentasche, auf der Suche nach dem mittlerweile durchgeweichten Zellstoff. Als ich noch einmal kurz den Raum verließ, landete der Inhalt der Untertasse im Blumentopf.

Sein Vortrag ließ sich unter diesen Bedingungen nicht durchhalten. Seine Schulungsseminare hatten ihm keine Strategie für solche Situationen mitgegeben. Er stockte, er suchte rote Fäden, er improvisierte. Er wurde zum Menschen. Wir kamen ins Gespräch und plötzlich wurde er mir beinahe sympathisch. Zwanzig Minuten später waren alle meine Fragen beantwortet und ein neuer Vertrag geschlossen. Es war nicht die Versicherung, die er geplant hatte mit mir abzuschließen. Aber ich bin mit dem, was ich an diesem vorweihnachtlichen Nachmittag unterschrieben habe, bis heute gut gefahren. Das Fest war gerettet.

Die Trinkschale mit dem haarfeinen Riss hat bis heute einen Ehrenplatz im Küchenschrank. Ich habe sie Vertretertasse getauft. Ich benutze sie nur noch selten. Doch dann und wann überfällt mich unangekündigter Besuch. Neulich waren die Zeugen Jehovas da. Früher habe ich ihnen immer gleich die Tür vor der Nase zugeknallt. Heute will ich meinen Spaß. „Kommen Sie rein. Ein Tässchen Tee?“

MARCO CARINI