Prekariat im Weihnachtsstress

Der typische Geruch von Gurkensalat in Kinderbadewannen: Nach drei Jahren Arbeit an den „Prekären Perspektiven“ feierte die NGbK das Erscheinen eines Readers

Was wird wohl das Wort des Jahres 2006 werden? Die neu entdeckte „Prekarisierung“? Oder wird eher die „Unterschicht“ zum Unwort des Jahres gewählt? Lange war die beständige Unsicherheit der Lebensverhältnisse unter Künstlern und Kulturproduzentinnen kein Thema: Niemand sprach gerne über seine zeitweilig desolate Lage. Erst in den letzten Jahren wurde öffentlich diskutiert, wie viele sich so am Rande des Existenzminimums durchwursteln. „Prekarisierung“ wurde zum Modebegriff – fast ist es schick geworden, prekarisiert zu sein. Alle wollen dazugehören, downsizen ihr Einkommen oder klagen über die bittere Erfahrung, von der Unterstützung der Eltern abhängig zu sein.

Dabei taugt der Prekarisierungsbegriff, seit er von arbeitslosen Akademikern über Kulturschaffende bis auf Hartz-IV-Empfängern ausgedehnt wurde, nur noch unscharf für die Beschreibung unterschiedlicher Lebensentwürfe und ökonomischer Bedingungen. Eher sollte man die alten Begriffe „Klasse“, „Schicht“ und „Arbeit“ neu definieren. Denn letztendlich werden viele der zur Zeit unterbeschäftigten Jungakademiker und Medienschaffenden ja doch noch ihren Platz finden, auch wenn sie nicht ganz den Lebensstandard ihrer Eltern – hohes Einkommen, Immobilienbesitz und hohe Rücklagen – erreichen.

Nach drei Jahren Bearbeitung der „Prekären Perspektiven in Arbeits-und Lebensverhältnissen“ feierte die Neue Gesellschaft für bildende Kunst am Donnerstag das Erscheinen des gleichnamigen Readers, der die Debatten mit KünstlerInnen, SoziologInnen und AktivistInnen nachzeichnet. Am Nachmittag bereits sollten verschiedene Aktionen entlang der Friedrichstraße stattfinden.

Es war nicht so einfach, im Weihnachtstrubel der Friedrichstraße das tapfere Fähnlein der aufrechten Prekarisierten auszumachen. Am verabredeten Treffpunkt verrichteten Jopp-Fitnesspromoterinnen ihre traurige Arbeit, Hare Krishna Mönche boten ihre Schriften feil und Obdachlose verkauften den „Straßenfeger“ – alles mehr oder weniger Prekarisierte, wohin das Auge blickt. Aber schließlich fanden die Aktionisten doch zusammen und zogen zu Dussmann.

Dort regnete es plötzlich Flugblätter zuhauf vom zweiten Stock: „Dussmann verkauft nicht nur gute Bücher, sondern auch Sauberkeit und Sicherheit zu Niedriglöhnen“. Texte zum Thema „Arbeit“ wurden vorgelesen und subversiv Flugblätter auf den Tischen und zwischen den Büchern verteilt. Während die Reaktion der Mitarbeiter vom genervten Augenrollen zum leisen Zuspruch reichte, verfehlte die Aktion bei den Kunden nicht die Wirkung: Viele bückten sich nach den Zetteln, lasen pflichtschuldig und machten betreten- bedenkliche Gesichter, als sie mit ihren Buchpaketen das quirlige Kulturkaufhaus verließen.

Da weitere Aktionen und der geplante Zug nach Kreuzberg ausfielen, traf man sich später am Abend im Festsaal Kreuzberg. Dort verströmte die Volxküche den typischen Geruch von Gurkensalat in Kinderbadewannen, ein Bücherstand war aufgebaut. „Die Überflüssigen“ zeigten Filme über ihre Aktionen bei Lidl, die „Absageagentur“ verlas schön formulierte Standardabsagen an Unternehmen. Etwas ermüdend wirkte das ungeschnittene Protestfilmmedley aus Frankreich, auch die A-Capella-Performance „Die Jobcenter suchen neue Warteschleifenjingles“ brachte nur kurz Leben in die Bude. So starb der bunte Abend langsam vor sich hin. Zu sakralen Melodien sollte man den „Psalm für prekäre Perspektiven“ mitsingen, eine Videovorführung fiel „technischen Sachen“ zum Opfer, die Hiphopper standen aus dem gleichen Grund ohne Sound auf der Bühne.

Bleibt nur zu wünschen, dass soziale Bewegungen neben neuen Formen des Protestes auch bald mal weniger altbackene Formen der Unterhaltung finden.

CHRISTIANE RÖSINGER

„Prekäre Perspektiven“, 176 Seiten, 7 Euro, ISBN: 978-3-938515-08-2 oder direkt über ngbk@ngbk.de