Verhaltenslehren der Wärme

Die Tiere sind unruhig! Bei Dachsen, Eichhörnchen und Zugvögeln ist zurzeit etwa eine große Unsicherheit zu beobachten: Sie müssen lernen, mit einem Winter umzugehen, der kein Winter ist. Nicht alle Tierarten sind flexibel genug für den Klimawandel

von CORD RIECHELMANN

Im Kaukasus blühen die Kirschen, hatte ein Freund leicht mitgenommen gesagt. Und mir läuft ein Dachs vor die Füße – mitten im Berliner Grunewald. Das war meine Antwort, um im Tenor des Gesprächs zu bleiben. Es ging also um das Klima, nicht um das Wetter. „Klima ist das, was man erwartet, Wetter ist das, was man bekommt“, hat einer der Pioniere der Klimaforschung, der Amerikaner Larry Gates, Anfang der 1980er Jahre einmal gesagt, um den Unterschied von Wetter- und Klimaforschung zu erklären. Die Wetterforschung analysiert einzelne, lokal begrenzte Ereignisse wie Hochdrucklagen oder Wirbelstürme im Kaukasus oder Pazifik, während die Klimaforschung alle Wirbelstürme der Welt in den Blick nimmt und versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die globale Erwärmung im nächsten Jahr zu mehr oder heftigeren Wirbelstürmen führt oder nicht.

Dass eine globale Erwärmung stattgefunden hat und in den vergangenen Jahren eine Geschwindigkeit erreicht hat, die auch die härtesten Klimapessimisten nicht auf der Rechnung hatten, bezweifelt zurzeit niemand mehr. Zu offensichtlich sind die direkten Auswirkungen. Die blühenden Kirschen im Kaukasus sind ja kein Einzelfall. Man konnte noch vor ein paar Tagen mitten in einem Berliner Park Nachtfalter um eine Laterne fliegen sehen, die nach jedem Bestimmungsbuch schon im August hätten verschwunden sein müssen.

Für die Falter wie auch für andere Schmetterlinge ist das, nach allem, was man bisher weiß, nicht schlimm. Die Erwärmung verlängert schlicht ihre Lebensspanne im jährlichen Zyklus. Ähnliches gilt für Wespen, Hummeln und Hornissen und viele Pflanzen in unseren Breiten. Denn die Verstädterung von Pflanzen und Tieren hat sie längst auf höhere Temperaturen und mehr Licht vorbereitet – wobei ein längeres Leben für sie meist kein Grund zur Panik ist.

Viele Lebewesen der mittleren Breiten der Erde haben die Möglichkeit, flexibel mit veränderten Umwelten umzugehen. Ihre ökologische Potenz, wie der Fachbegriff dafür heißt, ist nach oben wie unten weit. Der Dachs ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist zwar tatsächlich erstaunlich, einen Dachs mitten am Tag und nicht mal gegen den dämmerig werdenden Nachmittag zu sehen, aber dem Tier muss es dabei nicht schlecht gehen. Dachse sind zwar eigentlich dämmerungsaktiv und kommen nur abends aus ihren Bauen, wenn sie aber der Hunger treibt, scheuen sie auch das Licht nicht.

Wenn die hiesigen Dachse jetzt unruhig im Laub nach Nüssen, Mäusen und Käfern suchen, hat das natürlich mit einer Unsicherheit gegenüber dem Wetter zu tun. Dachse können bei unwirtlichen Temperaturen eine monatelang dauernde tiefe Winterruhe halten und sich in der Zeit von ihren Fettreserven ernähren, die sie sich vorher anfressen müssen. Da sie aber nicht wie Feldhamster, Murmeltiere oder Igel klassische Winterschläfer sind, können sie erstens jederzeit aus dem Tiefschlaf wieder aufwachen und zweitens in milderen Zonen auch ganz auf ihn verzichten. Ihre Unruhe hierzulande zurzeit ist also keine Folge einer Art Disposition, die es allen Dachsen unmöglich macht, mit dem Wetter klarzukommen, sondern eine individuelle Erfahrungsunsicherheit. Wenn sie bisher jedes Jahr um diese Zeit langsam das Bett herrichten mussten, scheint das dies Jahr anders zu sein, und der Prozess des Lernens oder Umlernens ist auch bei Tieren ein unruhiger – bevor er im Wissen zur Ruhe kommt.

Viele derzeit zu beobachtende Unsicherheiten unter Tieren wie Zugvögeln, Eichhörnchen oder Dachsen hängen schlicht mit der so nicht gekannten Situation zusammen. Die hiesigen Tiere sind in der Mehrzahl in der Lage, damit irgendwie umzugehen. Viele Vögel tun sogar gut daran, nicht mehr in den Süden zu fliegen. Denn die Klimaerwärmung zeitigt in den tropischen und arktischen Zonen weitaus katastrophalere Wirkungen als bei uns. Was mit der bereits erwähnten geringeren ökologischen Potenz vieler tropischer und arktischer Arten zusammenhängt. Eine Erwärmung um nur zwei Grad des Meeres kann zum Beispiel das Leben in den Korallenriffen in den tropischen Flachmeeren irreversibel schädigen. Gleiches gilt für die Larven der Sandaale in den arktischen Meeren. Auch der Eisbär auf seiner Eisscholle wird, wenn sie schmilzt, nicht einfach auf die nächste springen können, wenn die auch geschmolzen ist. Er ertrinkt.