Kanzlerin fordert Einmischung – für Kinder

Nach dem neuerlichen Tod eines vernachlässigten Kindes muss sich die Bundeskanzlerin Fragen gefallen lassen – von einer Achtjährigen. Angela Merkel beklagt Spaltung der Gesellschaft, ruft nach Courage und ist so ratlos wie der Rest der Republik

VON KATHARINA KOUFEN

Kinderbacken tätscheln, Säuglinge halten – das ist so gar nicht die Welt der Kanzlerin Angela Merkel. Nun kam sie nicht um ein paar Bilder mit Kindern herum. Als Gast bei der Fernsehgala „Ein Herz für Kinder“ wird sie von einem achtjährigen Mädchen ziemlich unverblümt gefragt: „Wie stellen Sie sich vor, Kindern zu helfen?“ Merkels Antwort: „Es gibt eine Familienministerin.“ Die kleine Magali Greif guckt ziemlich ratlos. Die Kanzlerin schiebt nach: „Man sollte nett zu Kindern sein und sie fragen, was sie gerne möchten.“

Für Kinder gibt es tatsächlich Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Doch just am Tag vor der Gala war in einer thüringischen Kleinstadt ein totes Baby gefunden worden, in seinem Bettchen verdurstet – ein neuer Fall in einer Reihe von Kindesmisshandlungen in den letzten Monaten. Da standen plötzlich nicht mehr die Aids-Waisen im fernen Afrika im Mittelpunkt, sondern Kevin, Leon und Jessica aus dem eigenen Land. Merkel musste auch etwas dazu sagen. Es habe in diesem Jahr in Deutschland „unglaublich schockierende Fälle von Kindesvernachlässigung gegeben“, befand die Kanzlerin. Sie sehe eine Spaltung der Gesellschaft „in Menschen, die ein Herz für Kinder haben auf der einen, und Kinder, die es unglaublich schwer haben auf der anderen Seite“. Alle sollten den Mut haben, „sich an Stellen einzumischen, an denen es Grund zu Sorge gibt“.

Einmischung alleine reicht nicht. Im jüngsten Fall des neun Monate alten Leon aus Sömmerda (Thüringen) hatten Nachbarn vor kurzem das Jugendamt alarmiert: In der Wohnung nebenan schreie stundenlang ein Baby. Es brenne kein Licht. Das Amt schaltete sich ein, wollte den Jungen und seine zweijährige Schwester an den getrennt lebenden Vater übergeben. Einen Tag vor dem Gerichtstermin verließ die Mutter ihre Kinder. Kurz darauf war ihr Sohn tot. Die Wohnung war dunkel und kalt, es stank aus dem Kühlschrank. Der Energieversorger hatte bereits vor sechs Wochen den Strom abgestellt.

Manche Politiker sind inzwischen überzeugt: Nur Zwang hilft. Der Bundesrat forderte am Freitag ein Gesetz, dass Eltern verpflichtet, ihre Kinder zu den Vorsorgeuntersuchungen – den sogenannten „Us“ – beim Kinderarzt vorzustellen. Wer dies nicht tut, muss mit Sanktionen rechnen. Das Kindergeld wird gestrichen, das Jugendamt eingeschaltet oder beides. Bisher hat es keine Folgen, wenn eine „U“ versäumt wird. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber kündigte an, dass er Sanktionen auch im Alleingang einführen werde.

Ob mit Zwang mehr Schutz für Kinder erreicht werden kann, ist allerdings umstritten. Die „Deutsche Kinderhilfe Direkt“ kritisierte den Vorschlag des Bundesrats als „Placebo“. Es ändere „praktisch vor Ort gar nichts“. Auch die familienpolitische Sprecherin der Grünen, Ekin Deligöz, hält den Vorschlag für falsch. Viel wichtiger sei es, überforderten Eltern rechtzeitig Hilfe anzubieten. „Hebammen, die derzeit nur zehnmal in den ersten drei Wochen nach der Geburt Hausbesuche machen, sollen dies bei Bedarf über drei oder vier Monate hinweg tun können“, so Deligöz zur taz. Gleichzeitig sollten alle Familien einmal in den ersten Lebensjahren ihres Kindes einen Nachweis darüber erbringen müssen, dass sie an den „Us“ teilgenommen haben. Wer darauf nicht reagiere, solle Hilfe vom Jugendamt erhalten.

Jede Woche werden in Deutschland drei Kinder von ihren Eltern getötet. 2005 wurden 179 Todesfälle bekannt. Laut Bundeskriminalamt stieg die Zahl der misshandelten Kinder seit 1996 um 50 Prozent. Experten schätzen, dass weniger als ein Zehntel der Misshandlungen überhaupt entdeckt und gemeldet werden. Dass die Zahl der gemeldeten Fälle steigt, hat damit zu tun, dass Kindesmisshandlung stärker als Problem wahrgenommen wird. Die Zahl der Misshandlungen mit Todesfolge – bei denen die Dunkelziffer weitaus niedriger liegt – hat sich seit Jahren kaum verändert.

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