Zurückgeblieben im Tal der Verlorenen

SOZIALKRITIK Noch nicht einmal das Abhauen klappt: Philipp Meyers großer Neo-Steinbeck-Roman „Rost“

Der Held muss fort, um sich selbst zu finden. Das ist eins der unkaputtbarsten Motive des Erzählens. Zusammen mit seinen Varianten: zurückkehren, um anzukommen. Oder: dableiben, um sich treu zu bleiben. In „Rost“ schickt Philipp Meyer seine Protagonisten durch alle Stadien dieses Dreisatzes. Er lässt sie resignieren und sich aufraffen, losgehen und sitzenbleiben, umkehren und wegrennen. Nur um zu dem Fazit zu gelangen: Egal wie man’s macht, macht man’s verkehrt.

Aber: Man macht’s trotzdem. Weil die Situation ausweglos ist in diesem Tal in Pennsylvania, in dem einst die Stahlindustrie blühte und es nun keine Perspektiven mehr gibt. Also setzt sich Isaac in Bewegung. Klaut seinem Vater die Ersparnisse, packt seinen Schlafsack ein und marschiert los. Er will ins Sehnsuchtsland, nach Kalifornien.

Dummerweise trifft er an der Stadtgrenze seinen alten Kumpel Poe; die beiden geraten in eine Auseinandersetzung und ein Obdachloser stirbt. Der lokale Polizeichef Harris ermittelt ein wenig voreingenommen, weil er ein Verhältnis mit Poes Mutter Grace pflegt. Isaacs Schwester Lee will ihren Bruder aus der Sache heraushalten und muss deshalb wohl ihren Liebhaber Poe anschwärzen. Und Henry, Vater von Isaac und Lee, wartet auf seinen eigenen Tod, der zumindest ein paar Probleme lösen würde.

Hirsche in leeren Städten

Sechs Figuren, sechs Perspektiven, zwischen denen Meyer hin und her wechselt. Trotz einer bisweilen holprigen Übersetzung von Frank Heibert erzählen diese kunstvoll verschränkten Stimmen von der Verzweiflung des Individuums, das im Zeitalter der Profitmaximierung systematisch seines freien Willens beraubt wird. Meyers Figuren sind Getriebene. Mit eigenem Wollen, eigenem Willen zwar, aber dieser Wille ist nur noch einen Scheiß wert in einer Welt, die keine Aussicht mehr bietet auf ein sinnvolles Arbeitsleben, weil das, wenn überhaupt noch, allein im Sinne des Kapitals abläuft. Auch wer es herausgeschafft hat aus dem Tal der Verlorenen wie Lee, der findet, zurückgeworfen auf sich selbst, nur eine Leere.

Schuld ist, da ist der ehemalige Banker Philipp Meyer eindeutig, nur eins: der böse Kapitalismus moderner Prägung. Der ist verantwortlich dafür, dass die Zivilisation schwindet: Zuerst äsen die Hirsche auf dem Nachbargrundstück, dann stehen sie im eigenen Garten, und schließlich laufen sie durch die Straßen der entvölkerten Städte. Die Natur kehrt dorthin zurück, wo sich der Mensch selbst abschafft. Die Industrieanlagen, stillgelegt und zerfressen vom titelgebenden Rost, werden degradiert zu pittoresken Naturschönheiten.

Im Gegensatz dazu malt Meyer die alte Zeit, als die Fabrikschlote noch rauchten, in romantischen Farben: „Hier leben die Menschen und hier arbeiten sie. Ihr ganzes Leben in der Landschaft sichtbar.“ Doch „als die Werke dichtmachten, da brach das ganze Tal zusammen, dessen Herz der Stahl gewesen war“. Manche Figur klingt bei Meyer wie ein SPD-Hinterbänkler.

Doch die politische Analyse bleibt zahm. Meyers Abgesang auf den industriellen Osten Amerikas ist ein Roman gewordenes Klagelied von Bruce Springsteen, eine zu Fiktion weiterentwickelte Dokumentation von Michael Moore, allerdings nicht halb so komisch. Nicht nur indem er seinen Isaac als Hobo auf Güterzügen reisen lässt, sondern vor allem mit seinem grimmigen Realismus stellt sich Meyer demonstrativ in die Nachfolge eines John Steinbeck.

Die Dienstleistungsgesellschaft ist noch fern im Tal von Meyers Helden, die Finanzkrise nicht einmal nötig für den Niedergang. Die Karawane zieht weiter, die Menschen ziehen notgedrungen hinterher. Sie müssen weggehen, um überhaupt etwas zu finden.

THOMAS WINKLER

Philipp Meyer: „Rost“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 464 Seiten, 22,95 Euro