berliner szenen Ist Gott tot?

Bärtige Propheten

Die Tram M 20 wurmt sich langsam Richtung Nordbahnhof durch den Prenzlauer Berg. Das Wetter ist schlecht, die Aussicht öde. Wer nicht bald hinaus muss, liest oder döst. Das von Gepolter begleitete Öffnen und das schwere Zufallen der Türen hören wir Fahrgäste nicht mehr, man gewöhnt sich an den Takt. Ein flüchtiger, beiläufiger Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass ich noch lange nicht am Ziel bin.

Plötzlich, Prenzlauer, Ecke Danziger, geht ein kollektives Aufmerken durch den Waggon, die bereits zugefallenen Türen öffnen sich wieder. Alle wenden sich der mittleren Tür zu. Ein vollbärtiger Mann im dreckigen Wollpulli kommt herein und murrt kurz etwas Unverständliches mit der heiseren Stimme der Berufstrinker. Sein Kollege, ebenfalls Vollbart und Wollpulli, versucht ihn zurückzuhalten. Der erste Betrunkene aber macht sich los, und bellt nun, predigerhaft: „I hope – the pope – knows – that god ist dead. He lives in california.“ Wir alle sind wie versteinert. Wir schweigen und starren. Der Bellende nickt gönnerhaft, deutet eine Verbeugung an und wird vom Kollegen rasch aus der Bahn gezogen. Er taumelt draußen, die Türen schließen sich wieder, der Kollege des Betrunken lacht ein Piratenlachen und macht für uns Boxübungen. Wir starren weiter, nun aus den Fenstern zu ihnen hin. Dann ruckelt die Tram wieder an. Wir wenden uns wieder den Zeitungen zu, den Büchern, dem Gedöse. Doch so recht will sich keine Routine mehr einstellen.

Pope, hope, netter Vers. Doch warum lebt der tote Gott in Kalifornien? Wollte der Betrunkene uns warnen? Sollten wir den Papst warnen? Gehörten die Boxübungen zu der Performance? Wir wissen es nicht. Die Unruhe bleibt.

JÖRG SUNDERMEIER