ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Ein achtbeiniger Freak zur Untermiete

Wer Minderheiten territoriale Zugeständnisse macht, der braucht sich über verstopfte Abflüsse nicht zu wundern

Es ist doch immer wieder ein Vergnügen, in der Zeitung zufällig auf das Bild einer talentierten Bekannten zu stoßen und lesen zu dürfen, dass sie es geschafft hat. Dass ihr endlich die Anerkennung zuteil wird, die sie immer schon verdient hat. Vor allem dann, wenn man von Anfang an persönlich ihren Werdegang mit Wohlgefallen verfolgt hat; ihre ersten tastenden Schritte, linkisch und unsicher noch; ihre ersten vorwitzigen Hüpfer. Ich entsinne mich noch, wie stolz sie ihre ersten größeren Sprünge absolvierte und ihr kniffliges Handwerk bald mit so lässiger Perfektion zu beherrschen lernte, dass ich oft nur mit offenem Mund zuschauen konnte. Selbst einem blutigen Laien wie mir dämmerte damals schon, dass ihre spektakulären Talente früher oder später von der Allgemeinheit anerkannt und von der Gesellschaft gewürdigt werden mussten – auch wenn’s nun nur die Arachnologische Gesellschaft ist, die der Sandtarantel zum begehrten Titel der „Spinne des Jahres 2007“ verholfen hat.

Die „Spinne des Jahres“, eine Art „Bambi“ für Kopffüßler, wird alljährlich von 75 Experten aus 21 Ländern gekürt. Zum Vergleich: In der Jury für den „Journalisten des Jahres“ hocken gerade mal 45 Experten. Auch gehen einer „Spinne des Jahres“ in der Regel ganze Jahrmillionen abenteuerlichster Evolution voraus, dem „Journalist des Jahres“ dagegen manchmal nur der Ruf einer, öhem, „flotten Schreibe“.

Umso größer also war mein Entzücken, dass sich die Arachnologen auf die putzige Sandtarantel alias Arctosa cinerea alias Sand-Wolfsspinne alias Flussufer-Riesenwolfspinne geeinigt haben. Für mich war sie – trotz ihrer offensichtlichen Weiblichkeit – einfach nur der Wolfgang.

Wolfgang steht total auf „von Menschen geschaffene Biotope wie Baggerlöcher, Sand- und Kiesabbaustellen“ und damit auch auf meinen Balkon, wo wir uns in einer lauen Sommernacht das erste Mal begegneten.

Wie üblich wollte ich gerade meine Kippe in einem der alten Bohrlöcher der Ziegelwand ausdrücken, als plötzlich Wolfgang daraus hervorgekrochen kam. Es war zwar nicht Liebe, aber doch gegenseitige Zuneigung auf den ersten Blick. Denn wie es auch verständnisvolle Polizisten, vernünftige Finanzbeamte oder zärtliche Zahnärzte gibt, so gibt es auch freundliche Spinnen. Anders als andere Arten setzt Wolfgang bei der Jagd auf Beute nicht auf Heimtücke, sondern Sportlichkeit. Wolfgang arbeitet ohne Netz und doppelten Boden. Hat er sich ein Käferchen, eine Mücke oder eine Assel ausgeguckt, springt Wolfgang dem verdutzten Opfer aus einer Distanz von bis zu zehn Zentimetern zielgenau auf den Buckel … kurzum: die „Spinne des Jahres“ steht in denkbar krassem Gegensatz zur „Spinne des Grauens“, die ebenfalls bei mir zu Hause ihr Habitat gefunden hat.

Experten würden sie vermutlich als Große Zitterspinne identifizieren, mir beruhigend auf die Schulter klopfen und sagen: „Die tut nix, die will nur spielen.“ Aber warum hat sie sich dann als biologische Nische ausgerechnet den Zwischenraum zwischen meiner Badewanne und deren Umkachelung ausgesucht? Erstmals gesichtet habe ich diese düstere Kreatur, als ich zwecks Reinigung eines verstopften Abflusses die dafür vorgesehene Kachel herausnahm. Dahinter erstreckt sich das feuchte Verlies einer lichtlosen, von zahllosen Überschwemmungen gezeichneten Landschaft, über der wie Nebel ein aberwitziges Geflecht raumgreifend-klebriger Spinnweben hing, durch das sich, erschrocken über das jäh einfallende Licht, eine dürre Spinne blitzartig aus meinem Sichtfeld hangelte. Sie war von fahler, kränklicher, albinohafter Weiße.

Seitdem habe ich lernen müssen, mit dem verstopften Abfluss zu leben – hin und wieder vernichte ich die gespenstischen Kolonien, die dieses lichtscheue Ungeziefer unermüdlich hinter der Toilette oder unter dem Waschbecken zu gründen versucht. Wo die fidele „Spinne des Jahres“ nur meine Aufmerksamkeit will, hat dieser achtbeinige Freak from hell es offenbar auf mein komplettes Badezimmer abgesehen. Ein neugieriges Tierchen eben. Ich sollte es zum „Journalisten des Jahres“ küren.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Fragen zu Plagen? kommentar@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN