Ein Buch mit sieben Siegeln

taz-Serie „Das letzte Jahr“: Die 10/3 der Werner-Stephan-Oberschule setzt sich eine Projektwoche lang mit dem Thema Nationalsozialismus auseinander. Die deutsche Geschichte aber bleibt vielen fern – auch wenn sie Rassismus im Alltag erleben

Von Alke Wierth

Am Ende der Vorstellung kommt Unruhe auf im dunklen Theatersaal des Grips Theaters. Knie wippen, Hände suchen unruhig nach Beschäftigung, ein bisschen wird getuschelt. Immerhin drei Stunden dauert schon das Theaterstück „Ab heute heißt Du Sara“, das sich die Schüler und Schülerinnen der Klasse 10/3 der Werner-Stephan-Oberschule ansehen. Es sind Szenen aus zwölf Lebensjahren der Jüdin Inge Deutschkron, ihrer Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, geschrieben nach ihrer Autobiografie „Ich trug den gelben Stern“. Mit dem Buch haben sich die Zehntklässler schon im Deutschunterricht befasst. Der Theaterabend ist nun so etwas wie der Höhepunkt ihrer Projektwoche zum Thema Nationalsozialismus.

„Krieg ist schlimm“, sagt am Ende des Stückes Julia, die aus Kasachstan stammt und erst seit einem halben Jahr in der Klasse der Tempelhofer Hauptschule ist. Deutsch spricht sie noch schlecht – von den Dialogen des Stückes hat sie nicht viel verstanden. Vom Leiden der Protagonisten schon.

In der Pause ist die Ergriffenheit der Jugendlichen noch spürbar, am Ende des langen Stückes aber hat die Unruhe sie verdrängt. Die Jugendlichen wollen nach Hause – die Heimfahrten müssen organisiert werden. Die zierliche Kathrin drängelt sich eilig durch die Grüppchen, die sich vor dem Grips Theater gebildet haben. Ob das Stück sie beeindruckt hat? „Nee, Juden, das interessiert mich nicht so. Ist nicht so mein Thema“, nuschelt sie in ihrem abgehackten Sprechstil. Kathrin lebt erst seit fünf Jahren in Berlin. Zuvor ist sie mit ihren Geschwistern und ihrer aus Polen stammenden Mutter bei der palästinensischen Familie ihres Vaters im Libanon aufgewachsen. Mit deutscher Vergangenheit hatte die 16-Jährige bisher wenig zu tun.

Fern der Vergangenheit

Vor dem Theaterbesuch waren die Zehntklässler im Haus der Wannseekonferenz und im Anne-Frank-Zentrum. Sie haben mit Zeitzeugen gesprochen, ein Konzentrationslager besucht und einen Theaterworkshop im Jüdischen Museum gemacht. Auch der Dokumentarfilm „Lost Children“, der die Geschichte von Kindersoldaten im kriegsgeschüttelten Uganda erzählt, gehörte zum Programm der Projektwoche.

Für diesen Film entscheidet sich Kathrin, als es bei den Klassenarbeiten am Ende darum geht, eine der besuchten Veranstaltungen zu beschreiben. Mit der Geschichte der Kinder, die kämpfen müssen und Untaten begehen, die sie sogar ihren eigenen Eltern entfremden, kann sie mehr anfangen als mit den Themen aus der deutschen Vergangenheit.

Am Mittwoch soll die Klausur geschrieben werden. Bereits am Montag dürfen die Jugendlichen sich im Deutschunterricht darauf vorbereiten. Klassenlehrerin Ruth Jordan erläutert die Aufgaben und die genauen Anforderungen: mindestens zwei Seiten handgeschriebener Text, es muss vorgeschrieben, verbessert und dann korrigiert ins Heft abgeschrieben werden. Die Vorschläge für die Aufsatzthemen kamen von der Zehntklässlern selbst. „Beschreibe einen Tag der Projektwoche“ oder „Schreibe die fiktive Autobiografie eines Menschen in der Nazizeit“ lauten sie.

Die SchülerInnen versuchen gemeinsam, sich die einzelnen Stationen ihrer Projektwoche in Erinnerung zu rufen. Der Lautstärkepegel in der Klasse steigt. Klassenlehrerin Jordan und die zweite anwesende Lehrerin, Melanie Koch, wandern durch den Raum und beraten einzelne Schüler bei der Aufgabenauswahl und der Gliederung der geplanten Texte. Die anderen rufen sich Daten und Orte über die Tische hinweg zu.

In einer Ecke der Klasse bedrängen einige Jungen und Mädchen Arafat, den anderen Schüler in der Klasse, der palästinensische Vorfahren hat, mit Fragen. Wie viele Onkel und Tanten er denn eigentlich habe, wollen sie wissen, und: „Die leben wohl auch alle in Deutschland?“

Arafat, der anfangs bereitwillig Auskunft über seine Familienverhältnisse gegeben hat, merkt nur langsam, dass die anderen ihn provozieren wollen. Der 17-Jährige, der neu in der Klasse ist und seine alte Schule nach eigener Auskunft wegen „zu viel Gewalt dort“ verlassen hat, hat selbst manchmal Probleme, ruhig zu bleiben. Doch diesmal gelingt es ihm, sich zu beherrschen. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme, zieht die Brauen hoch und schweigt. Sofort lassen die anderen von ihm ab. Arafat widmet sich wieder der Vorbereitung seines Aufsatzes. Er will über den Theaterworkshop im Jüdischen Museum schreiben.

Die zwei Lehrerinnen haben sich nicht eingeschaltet. „Es ist unglaublich schwierig zu sagen, wie viel Rassismus tatsächlich in solchen Auseinandersetzungen steckt“, sagt Jordan später. Manche Schüler würden sich gegenseitig „auf übelste Weise rassistisch beschimpfen“, erzählt sie – und in der nächsten Unterrichtsstunde dann wieder friedlich zusammenarbeiten. Die Lehrerin hält solche Konflikte „eher für den Ausdruck von Spannungen und gesellschaftlichen Spaltungen, die die Schüler auf dieser Ebene austragen“ als für den Ausdruck rassistischer Überzeugungen. „Geschichtsbewusstsein und Denken in historischen Dimensionen ist bei unseren Schülern kaum gegeben“, sagt Jordan noch. An den Klassenarbeiten zur Projektwoche Nationalsozialismus lässt sich erkennen, was sie meint.

„Sehr schlechte Zeit“

„Das Theaterstück zeigt alles, was in dieser Zeit war“, heißt es da über die Aufführung im Grips Theater, und weiter: „1939 bis 1945 war eine sehr schlechte Zeit.“ Über den Besuch im Anne-Frank-Zentrum schreibt ein Schüler: „Das Zentrum befindet sich einem Hinterhof. Wir mussten unsere Handys abgeben und unsere Sachen in Schubfächer legen.“ Und die Stunden im Haus der Wannseekonferenz fasst ein anderer so zusammen: „Am Donnerstag, den 23. 11. 2006, waren wir im Haus der Wannseekonferenz am Wannsee von 8.00 bis 15.00 Uhr.“

„Das ist typisch dafür, wie viele unserer Schüler denken und vorgehen“, meint Lehrerin Jordan. Sie hielten sich akribisch an formale Vorgaben wie Länge und Seitenabstand, „und inhaltlich werden die Aufsätze dann genau wie Praktikumsberichte angegangen“. Das heißt: mit genauen Orts- und Zeitangaben und detaillierten Tätigkeitsbeschreibungen. Das Thema des Projekts kommt kaum vor.

Eine Ausnahme bildet der Text von Robert, dem Computerfreak. Er hat sich als Einziger aus der Klasse für das Thema „Fiktive Biografie“ entschieden. Auf fast vier Seiten beschreibt er in der Ichform das Leben eines Menschen in der Nazi-Zeit: „Es war traurig zu sehen, wie unsere Freunde deportiert wurden und es immer schwerer hatten.“ Und auch der Aufsatz eines der Schüler, die zuvor in den Streit mit Arafat verwickelt waren, hebt sich ab. Er interpretiert die Anlage des „Gartens des Exils“ im Jüdischen Museum als einen Ort, an dem fühlbar werden soll, „wie sich die Juden früher in Deutschland gefühlt haben“: „Der Garten hatte eine schiefe Lage. Es war schwer, von unten nach oben zu gelangen. Also hatten die Juden in Deutschland es damals schwer.“ Und: In seinem Aufsatz kommt Arafat vor. Der habe beim Theaterworkshop im Jüdischen Museum vorgeschlagen, auf der Bühne aus einem Brief vorzulesen. Das sei eine gute Idee gewesen.