In Ekstase gerät nur die Audiosoftware

MUSIKTHEATER Bußrituale: An der Staatsoper im Schillertheater inszeniert Reinhild Hoffmann die „Exercices du Silence“ des Komponisten Brice Pauset

Eine junge Frau aus reichem Adelshaus, die sich eigentlich um nichts sorgen müsste, hört zufällig die strenge Predigt eines Priesters und ist fortan von der Nichtigkeit ihres bisherigen Lebens überzeugt. Sie entscheidet sich für die Askese und nimmt allerlei Demütigungen auf sich. Schließlich endet sie im Irrenhaus.

So das Leben von Louise de Bellère du Tronchay, die sich „Louise du Néant“ (Louise von Nichts) nannte. Die Selbstkasteiungen, die die Mystikerin aus dem 17. Jahrhundert in Briefen schilderte, hat der französische Komponist Brice Pauset zur Grundlage seines Werks „Exercices du Silence“ (Exerzitien des Schweigens) gemacht. Als „eine der extremsten mystischen Erfahrungen des ausgehenden französischen Grand Siècle“ bezeichnet der Komponist die Zeugnisse von Louise du Néant, und in der Tat, was die Frau sich alles zugemutet hat, dürfte die voyeuristischen Ekelfantasien eines „Dschungelcamp“-Publikums um Längen übertreffen. So versetzte sie das Küssen der eitrigen Wunden ihrer Leidensgenossinen in der Nervenklinik immer wieder in Verzückung.

All diese Dinge bleiben dem Zuschauer in der Inszenierung der Choreografin Reinhild Hoffmann erspart. Das französische Libretto ist trotz makelloser Artikulation der Solodarstellerin Salome Kammer kaum zu verstehen, entweder zerhackt die Sängerin die Silben beim Sprechen, oder die elektronische Echtzeitverarbeitung ihrer Stimme übernimmt diese Aufgabe. Auch das Bühnengeschehen lässt nichts von den Unappetitlichkeiten ahnen, von denen der Text zu erzählen weiß. In der Ausstattung von Mark Lammert herrschen Schwarz und Weiß vor, die beiden Konzertflügel passen sich farblich mühelos ein, und Pianist Benjamin Kobler gibt mit weißgeschminktem Gesicht und halbseidenem schwarzen Anzug einen passablen, aber harmlosen Varieté-Vampir ab.

Vor dieser Szenerie agiert Kammer mit langer Metallstange, die mal als Kreuz geschultert, mal zur wenig zweideutigen Vereinigung hoch aufgerichtet wird. In ihrer der Subtilität entsagenden Deutlichkeit können die Bilder nicht so recht überzeugen.

Bliebe noch die Musik. Neben Stimme und Klavier nimmt in Pausets Komposition die Musikinformatik eine prominente Rolle ein. Stehen anfangs noch gesampelte Klangfetzen wie bei einem Radiosenderdurchlauf im Vordergrund, werden im Verlauf des Stücks zunehmend die Töne der beiden Instrumentalisten durch Echos oder andere Effekte zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, so dass die Audiosoftware immer wieder die Rolle des eigentlichen Hauptakteurs übernimmt.

Diese Ablösung der Stimme vom Körper, die durch die Bearbeitung im Computer ein Eigenleben entwickelt, passt assoziativ durchaus zur spirituellen Entrückung Louise du Neánts, zu ihrem Außer-sich-Sein. Doch Pauset schlägt daraus keine dramaturgischen Funken. Die gestammelten Laute, das Flirren der Effekte, das mal harmonisch klingelnde, mal zwischen Ton und Geräusch oszillierende Klavier verlieren sich im Klangdetail. Mag sein, dass damit die Ausweglosigkeit dieser Exerzitien vorgeführt werden soll. Zurück bleibt der Eindruck technisch verfeinerter Beliebigkeit.

TIM CASPAR BOEHME

■ „Exercices du Silence“, im Schillertheater, 20.–23. Januar, 20 Uhr