berliner szenen Das Alphabet der Stadt

X wie Xberg

In den Straßen rund um den Mariannenplatz riecht es nach Rauch. An den Händen der Anwohnenden klebt Kohlendreck. Kreuzberg, 21. Jahrhundert. Die türkische Mittelschicht, die hierzulande eine Unterschicht ist, lehnt aus dem Fenster, die Ellenbogen auf Sofakissen gebettet, und starrt auf die Straße. Sie macht es wie die deutschen Rentner. Nur das Gemecker fehlt. Unten ist es friedlich, die Kinder spielen auf einem eingezäunten Bolzplatz, ab und an fährt ein linksbewegter Exstudent mit dem Fahrrad über den Gehsteig, ein zotteliger Hund trottet hinterher. Hier brennen keine Busse, hier gibt es keine Stalinorgelnostalgie, es ist alles wesentlich ruhiger, als man meinen könnte.

Natürlich gibt es die juvenilen Eckensteher und Kleindealer, die gern mal einem vorbeifahrenden Mercedes hinterhertreten (wie im Kampfsport-Abendkurs gelernt). Aber eigentlich lässt man sich in Ruhe. Der einzige Lärm kommt von den Feuerwerkskörpern, die schon vor Weihnachten ausgetestet werden. Und dem wackeligen Doppeldeckerbus, der viertelstündig durchs Viertel schleicht.

Im Warteraum des Bürgeramts an der Schlesischen Straße läuft „Gimme Hope Jo’anna“. Auch hier sind die Leute kräftig durchmischt, ein älterer Herr mit Kassenbrille wippt zum Song, eine junge Türkin stillt ihr Kleinkind. Eine Studentin mit silbernen Turnschuhen und roter Strickjacke blickt durch den Raum. Der Song kommt nicht aus dem Fernseher, der auf stumm geschaltet ist und private Informationspolitik und Produkte für ihr Wohlbefinden zeigt. Dann kommt ein Piepton, und meine Antrittsnummer erscheint auf der großen Anzeigetafel. Ich bewege mich in Richtung Platz 6. Ich wohne jetzt auch hier.

RENÉ HAMANN