„Ich muss die Alltagssorgen kennenlernen“

Die Gemeinschaftsschule sei kein Selbstläufer, sagt Bildungssenator E. Jürgen Zöllner (SPD). Sie hat für ihn erst eine Chance, wenn sie zeigt, dass alle SchülerInnen gleichermaßen gefördert werden. Im Januar will Zöllner auf Tour durch die Schulen gehen. Die Auswahl trifft dafür ein Zufallsgenerator

Interview Alke Wierth
und Christian Füller

taz: Herr Zöllner, haben Sie geseufzt, als Sie gehört haben, dass Sie sich neben den Unis auch um die Schulen kümmern müssen?

E. Jürgen Zöllner: Ich war nicht in der Situation, dass ich über irgendetwas hätte seufzen müssen. Ich bin ja nicht gezwungenermaßen nach Berlin gekommen.

Haben Sie sich schon Schulen angesehen?

Ich war noch an keiner Schule. Aber ich werde, nachdem ich mich hier ein bisschen zurecht gefunden habe, im Januar beginnen, Schulen zu besuchen.

Welche stehen dabei ganz oben auf Ihrer Liste?

Ich habe bewusst gesagt, dass ich die Schulen, die ich besuchen werde, mit einem Zufallsgenerator auswählen werde. Ich will weder die Vorführproblemschulen noch die Vorführrenommierschulen besuchen. Die will ich natürlich auch mal sehen. Aber ich habe zunächst ein Interesse daran, den Normalfall kennenzulernen. Den Extremfall bekomme ich sowieso präsentiert.

Wann denn?

Entweder wenn eine Schule ausgezeichnet wird oder wenn es tatsächlich ein echtes Problem gibt. Meine Aufgabe besteht ja nicht darin, nur für das eine oder das andere Ende des Schulspektrums da zu sein. Ich muss die Alltagssorgen des normalen Systems kennenlernen.

Ihnen werden ja schon ziemlich viele Alltagssorgen präsentiert, seit Sie hier sind. An den Grundschulen zum Beispiel herrscht große Unzufriedenheit mit der Umsetzung der Schulreform. Haben Sie schon Änderungspläne gemacht?

Ausgehend von dem, was mein Vorgänger Klaus Böger gemacht hat, werden wir das vernünftig weiterentwickeln.

Gibt es keine Überlegungen, die flexible Schuleingangsphase noch mal zu überdenken?

Es gibt zurzeit von mir diesbezüglich keine konkreten Festlegungen.

Ein weiteres Problem der Schulen ist, dass es an manchen Schulen immer weniger Kinder deutscher Herkunft gibt. Wie werden Sie damit umgehen?

Auch wenn Sie jetzt sagen, er legt sich nirgendwo fest: Man muss erst mal mit den Betroffenen reden. Man muss gucken, um wie viele Fälle es sich dabei konkret handelt. Es ist mit Sicherheit ein Problem, wenn aufgrund der Bevölkerungszusammensetzung eine extrem einseitige Schülerzusammensetzung zustande kommt. Ich habe dabei Angst vor einer generellen Lösung, die dann wahrscheinlich von den Betroffenen als aufgepfropft und inadäquat empfunden wird.

Was wäre so eine generelle Lösung?

Ich halte absolut nichts von einem so genannten Bussingsystem – also die Verteilung von Schülern über ihren Kiez hinaus –, das ja das Ziel hat, unausgewogene Schülerzusammensetzungen zu verhindern. Im Bildungsbereich müssen wir Lösungen finden, die in hohem Maße akzeptiert werden. Wenn man falsche Angebote macht, wenn Kinder dann widerwillig in die Schulen gehen, kann es passieren, dass es zu einer ideologischen Auseinandersetzung über Strukturfragen kommt. Das aber lenkt von den eigentlichen Problemen ab. Deshalb sollte man Konflikte möglichst vermeiden.

Die Probleme von Schulen im Wedding oder in Neukölln liegen aber nicht an mangelnder Akzeptanz, sondern sie haben soziale Ursachen.

Das stimmt. Aber Sie lösen diese Probleme nicht allein, indem Sie dort nur eine Schulform anbieten. Sie müssen überall alle Angebote vorhalten.

Der mittlerweile abgelöste Interimsleiter der Rütlischule hat gesagt, man könne zwar die Probleme einzelner Schulen lösen. Aber im Prinzip sei das ganze System krank.

Ich werde sicher die Gelegenheit suchen, auch mit ihm zu sprechen. Ich glaube, er hat auch einen Ansatz wie Gemeinschaftsschule oder integrierte Gesamtschule vorgeschlagen. Aber auch die Verordnung einer solchen Schulform als zwangsläufig für alle würde kein Problem lösen.

Warum nicht?

Wir würden dabei vergessen, dass man im Prinzip jedes einzelne Kind, sei es besonders begabt oder sei es lernschwach, in jedem Schulsystem gut fördern kann. Auch im integrierten.

Dann brauchen wir die neue Schulform gar nicht?

Die Frage ist, wo die Bedingungen einer individuellen Förderung, die ich in jeder Schulform brauche, wahrscheinlicher und günstiger umgesetzt werden können. Oder ob ich tatsächlich Rahmenbedingungen garantiere, unter denen zwei so unterschiedliche Ansatzpunkte nebeneinander existieren können, ohne dass der eine dem anderen die Lebensgrundlage entzieht.

Das ist ja kein flammendes Plädoyer für die Gemeinschaftsschule. Es gibt aber doch den konkreten Auftrag an Sie, diese Schulform jetzt schrittweise einzuführen.

Und diesem stelle ich mich gerne, ich stelle mich ihm leidenschaftlich. Ich stelle mich ihm aber nicht blauäugig. Die Gemeinschaftsschule ist kein Selbstläufer. Gerade wenn ich will, dass dieser Ansatz eine Chance hat, dann muss ich darauf achten, dass er akzeptiert wird. Das Pilotprojekt Gemeinschaftsschule, das jetzt beginnt, muss nachweisen, dass es sowohl die lernschwachen wie auch die lernfähigen Kinder optimal fördert. Nur dann kann es Erfolg haben.

Wenn die Gemeinschaftsschule aber ein Angebot unter vielen bleibt, ist die Gefahr doch groß, dass genau wie bei den integrierten Gesamtschulen die motivierten SchülerInnen wegbleiben.

Diese Gefahr ist groß, ja. Die Gefahr ist aber auch groß, dass das Projekt Gemeinschaftsschule überhaupt keine Chance hat, wenn man von Anfang an sagt: Es wird darauf hinauslaufen, dass es nur noch Gemeinschaftsschulen gibt. Denn dann beginnt sofort ein Schulkrieg – und den halte ich für falsch. Ich sage, die Gemeinschaftsschule ist ein unheimlich interessanter Ansatz, um viele Probleme zu lösen. Deshalb werde ich darauf achten, dass sie eine faire Chance bekommt.