Späte Einsicht

Das Arzneimittelunternehmen Jenapharm lehnt zwar eine rechtliche Verantwortung für Folgeschäden des staatlichen DDR-Dopings immer noch ab, zahlt aber dennoch jeweils 9.250 Euro an 184 ehemalige Sportler

BERLIN taz ■ Der Pharmahersteller Jenapharm und 184 Dopingopfer des DDR-Sports haben sich im Streit um Schmerzensgeld geeinigt. Das teilte das Unternehmen am Donnerstag in Jena mit. Jenapharm will den ehemaligen DDR-Sportlern je 9.250 Euro zahlen. Vor einer Woche hatte sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) auf eine ebenso hohe Zahlung mit rund 167 DDR-Dopingopfern verständigt. Zudem will Jenapharm 170.000 Euro an die „Doping-Opfer-Hilfe e. V.“ spenden.

Mit der nun vereinbarten Zahlung wolle das Unternehmen einen sozialen Beitrag leisten, um das Leid der Betroffenen zu lindern und einen langwierigen Rechtsstreit zu vermeiden, hieß es in der Mitteilung. Die Geschäftsführung von Jenapharm sei freilich der Auffassung, dass die Firma keine rechtliche Verantwortung für Folgeschäden des staatlichen DDR-Dopingsystems trage. „Unabhängig von rechtlichen Fragen geht es hier jedoch auch um eine historische Bewertung der Rolle des VEB Jenapharm“, so Isabel Rothe, Geschäftsführerin von Jenapharm.

Nach der Einigung der ehemaligen DDR-Sportler mit dem DOSB am Mittwoch vergangener Woche hatte Jenapharm die Bereitschaft zu weiteren Gesprächen erklärt. Im April war ein Gütetermin zwischen beiden Seiten gescheitert. Der Streit um Zahlung hatte sich über Jahre hingezogen. Das Unternehmen, das in den vergangenen Jahren satte Gewinne machte, fühlte sich nicht zuständig für die DDR-Dopingopfer, dabei war es doch jener volkseigene Betrieb aus Jena und Weimar, der die legendären blauen Pillen, das anabole Steroid Oral-Turinabol, lieferte.

Bereits 1977 erhielt Jenapharm Weisung von oben. In einem streng vertraulichen Schreiben wurde der Leitung des Arzneimittelherstellers das „Forschungsvorhaben Komplex 08“ vorgelegt. Zielvorgabe: „Die Wirksamkeit der trainingsmethodischen Grundkonzeption in Schwerpunktsportarten des Leistungssports zu erhöhen.“ Dokumentiert ist dies in einer Sonderausgabe der „Geschichtswerkstatt“ Jena, der Stasiakten zugrunde liegen. Weiter heißt es: „Das Forschungsvorhaben ist von hoher Bedeutung für die Erfüllung der gesellschaftspolitischen Aufgabenstellung des DDR-Leistungssports.“

Die unlautere Leistungsexplosion blieb für die Sportler nicht ohne Folgen: Mit Symptomen von Vermännlichung hatten die teils jugendlichen Athleten zu kämpfen; später kamen nicht selten Leberschäden sowie ein erhöhtes Krebsrisiko hinzu. Die Nebenwirkung der Hormone zeigte sich auch bei Jenapharm-Angestellten, die an der Steroid-Fertigungslinie standen: Männer, denen Brüste wuchsen oder deren Potenz plötzlich schwand, wurden versetzt und zum Schweigen verpflichtet.

An zentraler Stelle forschte damals der Tiermediziner Prof. Dr. Michael Oettel. Oettel brachte es als der Hormonexperte der DDR bis zum Staatspreis (1987); sein Wissen war auch nach der Wende bei Jenapharm gefragt. Er stellte sein Know-how auch in den Dienst der Stasi, wie aus seiner handschriftlichen Verpflichtungserklärung hervorgeht. Als IM „Wolfgang Martinsohn“ berichtete Oettel von der Hormonfront; 1980 unter anderem darüber, „dass da [im Leistungssport; Anm. d. Red.] ganz differenziert nach dem Belastungsprinzip der einzelnen Sportarten Anabolika eingesetzt werden“. Oettel, der bei der Stasi als „krankhaft ehrgeiziger“ Karrierist galt, stellte sein Wissen auch bei der Entwicklung eines steroidhaltigen Nasensprays zur Verfügung. Während Oral-Turinabol bis 1994 ein offiziell zugelassenes Medikament war, traf das auf die Jenapharm-Entwicklung Mestanolon (STS 646) nicht zu. An Sportler wurde das Dopingmittel dennoch verabreicht.

MARKUS VÖLKER