Korruption funktioniert wie Doping

Beschäftigte und Betriebsräte können sich über die bei Siemens entdeckten Schmiergelder kaum wundern. „Jeder tut’s, weil man sonst keine Medaillenchancen hat.“ Auch im laufenden Geschäftsjahr sind wohl illegale Zahlungen geflossen

AUS MÜNCHEN MAX HÄGLER

Schmiergeld? Klar, das ist nicht gut – aber die Branche läuft nun mal so. Das ist die Haltung zur Siemens-Schmiergeldaffäre, die man von unabhängigen Arbeitnehmervertretern in München hört. Egal ob „bitte ohne Namen“ beim Café an der S-Bahn-Station Fürstenried-West, wo sich der Konzern über viele Hektar ausgebreitet hat. Oder am Telefon, wie von Betriebsrat Bernhard Tröger: „Bei der Korruption ist’s wie beim Doping: Jeder tut’s, weil man sonst keine Medaillenchancen hat.“

Wer nachfragt bei Siemens-Beschäftigten, bekommt Branchenregeln zu hören, die gar nicht zu der öffentlichen Empörung um 420 Millionen Euro passen, die wohl in den letzten sieben Jahren in schwarze Siemens-Kassen geflossen sind. Erst gestern hatte die Süddeutsche Zeitung vermeldet, dass auch in der Amtszeit des aktuellen Siemens-Vorstands Kleinfeld Millionenbeträge an obskure „Berater“ gezahlt worden seien.

Die Siemensianer bringen diese immer neuen Ermittlungsergebnisse in einen Zwiespalt. Wenn man schon Korruption bekämpft, sagen manche, dann doch bitte bei allen – und auf allen Seiten: bei den Gebern und den Nehmern. Auch Tröger, Projektleiter in der COM-Sparte, stellt fest: „Der einzige und notwendige Weg ist die Strafe.“ Trögers Geschäftsbereich Festnetz soll eigentlich von Nokia übernommen werden, doch die Finnen haben nach dem Schmiergeld-Ärger die Schlüsselübergabe bis auf weiteres verschoben. Wie viele Kollegen auch hatte Tröger auf Nokia gehofft – neue Chefs, neuer Schwung für eine Sparte, die Siemens vor zehn Jahren schon abgeschrieben hatte. Er hofft, dass Nokia dabei bleibt und dass die Schlagzeilen ein Ende haben. „Jetzt sollte alles auf einen Schlag gelöst werden.“ Das ständige Negativgerede sei natürlich schlecht fürs Image und gefährde damit Arbeitsplätze. „Dazu kommt ja wohl noch, dass Siemens künftig weniger Aufträge bekommt“, fürchtet Tröger. Schließlich müsse der Konzern beim Akquirieren jetzt besonders vorsichtig vorgehen.

Die große Gewerkschaft IG Metall sieht das mit den Branchenregeln ganz anders. Hier gibt man sich als Saubermann. „Ich sehe nicht, dass man Bestechungsgelder zu Vertriebszwecken rechtfertigen kann“, so Sprecher Jörg Köther. Es gebe klare gesetzliche Regelungen, „die keinen Raum für einen Zwiespalt lassen“. Noch stützt die IG Metall auch noch Management und Aufsichtsrat von Siemens. Am vergangenen Donnerstag war etwa vermeldet worden, dass man bei beiden Gremien „keine Rücktrittsgründe“ erkennen könne, schließlich sei die ganze Angelegenheit auch für den Vorstandsvorsitzenden Klaus Kleinfeld und den Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer schwer zu durchschauen gewesen. Für unabhängig organisierte Betriebsräte ein Unding: „Wozu braucht man denn einen Aufsichtsrat, wenn der nicht überwachen kann oder will“, heißt es etwa über das von Exvorstand von Pierer geführte Gremium.

Auch in der Amtszeit des heutigen Vorstandsvorsitzenden Klaus Kleinfeld hat Siemens wahrscheinlich 77,6 Millionen Euro Schmiergelder gezahlt. Zitiert wurde aus einer Bilanzprüfung der Beratergesellschaft KPMG, die im Auftrag von Siemens über die Bücher wacht. In dem sechs Seiten umfassenden Sonderbericht ist die Rede von einem „großen Risiko“, dass eine Reihe von Zahlungen zwischen Oktober 2005 und September 2006 „als Bestechungspraktiken im Ausland“ einzuordnen seien.

Das Papier war im Zuge der Ermittlungen von Siemens an die Staatsanwaltschaft weitergegeben worden. Möglicherweise handelt es sich bei den Empfängern der 77,6 Millionen Euro um einen Ersatz für aufgeflogene schwarze Kassen in der Schweiz und Liechtenstein. Das Geld war aufgrund von Beraterverträgen an 14 Firmen und Geschäftsleute aus Europa, Asien und Afrika gezahlt worden, obwohl die Beratungsleistungen unklar definiert waren und gegen firmeninterne Regeln verstießen.