Die ’Ndrangheta wandelt sich

„In Kalabrien bewegt sich was“, kommentierte im August 2010 die auf Mafia-Themen spezialisierte italienische Zeitschrift S die neuesten Entwicklungen rund um die kalabrische ’Ndrangheta. Nachdem Staatsanwälte wie Nicola Gratteri (vgl. taz vom 28. 5. 2010) lange Zeit als Rufer in der Wüste wirken mussten, ist seit dem Massaker von Duisburg viel geschehen.

Die in etwa 160 lokale Clans unterteilte ’Ndrangheta wird zunehmend als das wahrgenommen, was sie ist: der führende, global operierende Verbrechenskonzern mit etwa 6.000 direkten Mitgliedern und einem geschätzten Jahresumsatz von mehr als 40 Milliarden Euro. „Mafia-Export“ heißt dann auch das Buch des ehemaligen Vorsitzenden der Antimafiakommission des italienischen Parlaments, Francesco Forgione. Der Beweis für seine These des Exports wurde pikanterweise im November vergangenen Jahres vor dem Münchner Landgericht erbracht. Zwei in Deutschland ansässige Unternehmer aus Italien klagten erfolgreich dagegen, in Forgiones Buch als ’Ndranghetisti bezeichnet zu werden – trotz entsprechender Anschuldigungen italienischer Behörden und eines BKA-Berichts. Bleibt als Ergebnis von Forgiones aufwendiger Untersuchung, dass die ’Ndrangheta in Deutschland mit mindestens 15 sogenannten „locali“ organisiert und präsent ist.

Der Mythos einer wesentlich romantischen, lokal agierenden Bauernmafia hat sich erledigt. Die jüngsten Ermittlungsergebnisse der italienischen Behörden haben außerdem mit der Vorstellung aufgeräumt, die ’Ndrangheta sei ein durch blutverwandtschaftliche Beziehungen verfestigter, undurchdringlicher Organismus. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Aussagewilligen, die ein neues Licht auf die Struktur des Syndikats werfen. Gingen die Ermittler bisher von einer horizontalen Struktur aus, scheint sich die ’Ndrangheta, ähnlich wie die sizilianische Cosa Nostra, inzwischen hierarchisch zu organisieren. Giuseppe Pignatone, Generalstaatsanwalt von Reggio Calabria sagt, die Entdeckung der „coppola“ (Kuppel) sei ein echter Qualitätssprung für die Polizeiarbeit.

Die ’Ndrangheta reagiert mit verstärkter Militanz auf den Druck der Ermittler und die gestiegene Aufmerksamkeit der Medien. Trotzdem ist am wahrscheinlichsten, dass sie nach gewohnter Manier versuchen wird, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Denn es muss zwar eine Politik ohne Mafia geben können, sagt Francesco Forgione – aber eine Mafia ohne politische Rückendeckung gibt es nicht.

AMBROS WAIBEL