BRASILIEN – MEXIKO IM SPÄTI REICHENBERGER STRASSE 54 IN KREUZBERG
: Beinahe wie 1970

DETLEF KUHLBRODT

Diese WM macht müde. Weil man wegen der Zeitverschiebung immer erst um halb drei ins Bett kommt. Außerdem habe ich ständig Muskelkater. Besonders nach dem Aufstehen. Das liegt daran, dass ich immer noch mit letzter Tinte Fußball spiele. Montags bei Berolina-Mitte, dienstags mit der taz-Mannschaft gleich beim Anhalter Bahnhof. Ansonsten im Geiste: am Schreibtisch oder vor irgendwelchen Fernsehern und Leinwänden.

Mein Muskelkater kommt vermutlich auch daher, dass mein Fahrrad so superlahm ist. Im Schneckentempo radle ich durch Kreuzberg, „HATE FIFA!“ hat jemand auf den Bürgersteig vor dem Eingang zum Private Public Viewing in der Gitschiner Straße 20 gemalt. Hier sieht es aus wie in der Bar25, bevor sie vor knapp vier Jahren dichtgemacht wurde – nur alles etwas kleiner.

Vor dem Späti mit Bäckereiabteilung in der benachbarten Reichenberger Straße 54 sitzen ungefähr 30 Leute. Es gibt einen schönen, großen Fernseher und zwei Lautsprecher. Alles ist sehr kreuzbergerisch, der Kern des Publikums kommt aus der Nachbarschaft. Die Stühle mit Kunststoffgeflecht sind total bequem. Seit der WM 2006 wird hier Fußball gezeigt. An diesem Abend spielt Brasilien gegen Mexiko.

Mit einem kleinen Bändchen am Handgelenk in den mexikanischen Farben versuche ich, die mexikanische Mannschaft zu unterstützen. Irgendwie scheint es zu funktionieren: Torhüter Guillermo Ochoa hält großartig.

Mein Nebenmann heißt Harry und ist Anfang 50. Er erzählt von der WM 1970, als sei das gestern gewesen. Auch andere Fußball-WMs hat er noch ganz genau im Kopf. Wir streiten uns ein bisschen über Toni Schumacher. Ich sage, das war doch verbrecherisch, dieses superbrutale Foul gegen Battiston, bei der WM 1986 im Spiel gegen Frankreich. Er dagegen lobt die deutsche Torwartlegende in den höchsten Tönen.

Ende der 70er Jahre, erzählt Harry, habe er in der Goltzstraße in Schöneberg in einer WG gewohnt. Sie hätten bei der WM einen Fernseher draußen hingestellt, die Nachbarn seien gekommen und es wäre so ähnlich gewesen wie jetzt. Public Viewing.

Früher war auch immer noch Kiffen dabei, sagt Harry, kiffen und Fußball war sozusagen eins. An diesem Abend trinkt er Schnaps und Bier.

Das Spiel ist ganz okay und geht 0:0 aus. Nach dem Spiel baut der Späti-Chef die Sachen wieder ab, weil die Nachbarn ja auch schlafen müssen. Eigentlich ist der Plan, das nächste Spiel des Abends in einem anderen Späti in der Görlitzer Straße zu gucken. Da ist aber niemand mehr. Hätte ich mir eigentlich auch denken können. Auch dort brauchen die lieben Nachbarn ihre Ruhe.

Heimmannschaft: Je nach Laune, aber mit Tendenz zu Deutschland

Gästeblock: Jeder ist willkommen

Stadionimbiss: Späti – also alles, von Dosensuppe bis Gummibärchen

Ersatzbank: Ausreichchend vorhanden in der Gegend

Rote Karte: Idioten