„Im selben Moment krachte ihr Gebiss zusammen“
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Rinderfiletspitzen

Mein großer Bruder ist kein Leistungsverweigerer. Im Gegenteil: Nimmt er sich etwas vor, kennt er kein Erbarmen – auch mit mir nicht. Über Tage hinweg wurde zum Beispiel die Wohnkiste für unsere Katze zusammengehämmert, bis es die stabilste und dichteste Katzenwohnkiste der Welt war – auch wenn niemand die Katze je draußen schlafen lassen würde. Ich musste halten, während er hämmerte und war deshalb mit schuld am Lärm. Unsprengbar wie die Weltkriegsbunker steht die Kiste bis heute im Keller – nur dass keine Heavy-Metal-Band hineinpasst, die dort proben könnte.

Anders verhielt es sich mit dem Studium. Das hatte sich mein Bruder nicht im engeren Sinne vorgenommen, jedenfalls nach dem Grundstudium nicht mehr. Deshalb dauerte es etwas länger. Ab dem 17. Semester begann meines Bruders Langzeitstudium, uns die Weihnachtsfeste einzutrüben. Mama war einfach so besorgt um ihren Jungen. Wenn wir aus der viereinhalb Zugstunden entfernten Stadt eintrudelten, lachte sie noch, verteilte uns auf unsere ehemaligen Kinderzimmer und wartete singend in der Küche, bis wir von oben nach Bettwäsche riefen, die sie jährlich über immer neue Schränke zu verteilen pflegte. Dann gab es Stollen-aus-dem-Osten und den rituell beruhigenden Streit um den Kirchgang. Aber zum Heiligabendessen mussten wir über Regelstudienzeiten reden. Wie jegliche andere Innovation lehnten wir Geschwister auch diese ab. Nicht, dass meine Eltern ihren Kindern die Finanzierung des Erststudiums verweigern wollten. Auch sahen sie ein, dass Wirtschaftsingenieurwesen von ekelhaften Karrieristen bevölkert wird. Diese Leute machen gemeinsame Sache mit den Professoren, die wiederum mit der Industrie unter einer Decke stecken und deshalb nur Diplomarbeitsthemen verteilen, für die es Drittmittel, also Zusatzeinkommen gibt. Deshalb – unter anderem – wird die Ungerechtigkeit in der Welt immer größer. Wie soll man da ein Studium abschließen? Einerseits.

Andererseits – Mama war einfach so besorgt um ihren Jungen. „Du hattest so einen schönen Vorsprung, weil du ausgemustert wurdest – den hast du jetzt verspielt“, klagte sie im 18. Semester. Mein Bruder ignorierte sie und zeigte der Katze, wie man mit einem Hieb gegen die Christbaumkugel den ganzen Weihnachtsbaum in Schwingung versetzt. „In deinem Alter hatte Papa schon Job und Familie und Auto und Verantwortung“, zählte sie im 20. Semester auf. Mein Bruder wollte noch nie ein Auto. Er stahl Rinderfiletspitzen aus der Pfanne für die Katze und für sich.

„Ich habe wegen eines Praktikums für dich bei Papas Geschäftspartnern angerufen“, sagte Mama im 22. Semester, doch diesen Satz bekam sie nicht ganz zu Ende. Über die Semester hinweg war meines Bruders Verständnis für Mamas Sorge nicht etwa mitgewachsen, sondern eher geschrumpft. Seit neuestem fuhren die Busse auch Heiligabend noch in die Kreisstadt zum Bahnhof. Mein Bruder schnappte sich seine Tasche, brüllte, er halte das alles nicht mehr aus, lief aus dem Haus Richtung Bushaltestelle. Er wollte zurück in seine Studentenbude, dort ohne Baum und ohne Rinderfiletspitzen Musik hören und Mama mit Weihnachten ohne Sohn bestrafen. Entsetzt schrien meine kleine Schwester und ich auf. Mama tat erst, als würde er ohnehin gleich zurückkommen aus dem nebligen Dunkel, hatte aber schon Tränen in den Augen. Meine Schwester und ich liefen hinterher zur Haltestelle, er war schon weg!, liefen zurück. Mama hatte inzwischen auch Panik. Weihnachten! Ohne den Jungen! Wir sprangen alle ins Auto und fuhren die Hauptstraße hinunter, den Bus jagen.

Noch auf Höhe der evangelischen Kirche – schon eineinhalb Stunden vorm Gottesdienst sammelten sich die Tratschtanten – hatten wir ihn eingeholt. Mama hupte, steuerte neben den Bus, mein Bruder saß, Blick starr geradeaus, Tasche auf dem Schoß in der letzten Reihe. Meine Schwester und ich hingen aus den Autofenstern und winkten, er rührte sich nicht. An jeder Ampel fuhr Mama dicht auf den Bus auf, wir zappelten, sie hupte, er drehte sich nicht um. Der Bahnhof war auch Bus-Endstation und hier hielten wir mit fast quietschenden Reifen neben dem Bus, um dann zur Überraschung des Busfahrers nicht mit Gewehren ihn zu überfallen. Sondern um zum Zugfahrplan zu rennen. Ah – das Christkind segne die Bahn: Es fuhren keine Züge mehr. Langsam drehten wir uns zu meinem Bruder um, der extra lässig in die Bahnhofshalle geschlendert kam. Wir feixten. Er hatte keine Chance.

Den Gottesdienst ließen wir ausfallen. Es gab Rinderfiletspitzen. ULRIKE WINKELMANN

Furiosas Kalkül

Die Tür zur Küche ist offen. Sperrangelweit offen. Drin stehen zwei meiner WG-Genossinnen. „Ich will nicht mit ihr zusammen Weihnachten feiern“, höre ich Furiosa sagen. Mit „ihr“ meint sie mich. Denn soviel ist klar: In unserer WG hängt der Haussegen schief. Dass ich ausziehen soll, wurde mir vor ein paar Wochen schon mitgeteilt. Nun kommt Weihnachten dazwischen und ich bin immer noch da. Ich sitze am Telefon am anderen Ende des Flurs und weil die Tür zur Küche offen steht, höre ich, wie Furiosa sich in Rage redet. „Ich kann mir nicht vorstellen, für sie zu kochen. Dann kommt sie wieder zu spät oder isst nur, was ihr passt.“ Ihre Gesprächspartnerin Thusnelda sagt nur „ja“ oder „nein“. Sie weiß, wie man andere um den Finger wickelt. Denn je mehr Furiosa sich über mich aufregt, desto netter wird sie – so Thusneldas Kalkül – zu Thusnelda sein. Thusnelda hat das nötig und mit Furiosa ist nicht zu spaßen.

„Ich meine“, sagt Furiosa, „das ist doch ein Unding, dass sie erwartet, dass man Essen für sie aufhebt, wenn sie nicht rechtzeitig am Tisch sitzt.“ Thusnelda sagt „ja“. – „Und dann möchte ich ,Stille Nacht heilige Nacht‘ singen und sie schneidet Grimassen.“ Thusnelda sagt „ja“. Für Furiosa ist der Fall klar: „Ich will nicht, dass sie heute Abend mit am Tisch sitzt.“ Thusnelda sagt: „Ich verstehe dich.“

Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich Furiosa auch gefressen habe, aber das geht zu weit. „Sag mal, ihr habt wohl ‘nen Knall“, renne ich in die Küche und störe die beiden Verschwörerinnen. „Setzt mich am Heiligen Abend auf die Straße!“ Furiosa, die mit dem Rücken zur offenen Küchentür steht, dreht sich um: „Das ist eine Unverschämtheit, jetzt belauschst du uns schon. Das macht mein Vertrauensverhältnis zu dir endgültig zunichte.“ Ich bin für eine Sekunde baff. „Belauschen? Vertrauensverhältnis? – Dass ich nicht lache.“ Furiosa ist nicht zu stoppen. „Ja, belauschen. So bist du.“

Jetzt mal ehrlich: Die Sache stand schlecht für mich. Wer will schon Weihnachten mit seinen Gegnerinnen feiern? Mein Rückzug war unvermeidlich und unrühmlich zugleich. „Hat doch super geklappt“, höre ich Thusnelda beim Weggehen noch sagen.

WALTRAUD SCHWAB

Der letzte Walzer

Meine Mutter kaufte ihre Meinung am Kiosk. Ihr Neuvermählter ebenso. Nach mehreren Gläsern Wein brachen sich diese Erkenntnisse stets Bahn. Diesmal hatte das marktführende Boulevard-Blatt just zur Adventszeit seine regelmäßige Kampagne „Vom Joint zum goldenen Schuss“ recycelt, in der haarklein bewiesen wurde, dass jeder sporadische Haschisch-Konsument ganz unausweichlich an der Nadel enden würde.

Die Flut der neuen Einsichten ließ beim gemeinsamen Weihnachtsmahl sämtliche Dämme brechen, meine Mutter und ihr Angetrauter redeten sich regelrecht in Rage. Ich, der gelegentlich mal ein Pfeifchen genoss, hatte mir vorgenommen, das Thema nicht zu kommentieren. Leider fehlen mir oft Beharrungsvermögen und diplomatisches Geschick und so platzte aus mir irgendwann ein „Ist doch alles totaler Quatsch!“ heraus. Nun ließ sich die Diskussion nicht mehr stoppen.

Um meine Argumentationsbasis grundlegend zu verbreitern, räumte ich irgendwann ein, dass ich vermutlich hier der Einzige sei, der praktisch beurteilen könne, wovon wir sprächen. Augenblicklich wurde es still. Meine Mutter fasste sich als Erste und tat die Überzeugung kund, dass ich sie mit meinem Bekenntnis nur provozieren wolle. Ihr Sohn, ein Drogenkonsument – das konnte sie mir auch nach einem Glas zu viel nicht glauben.

Der nachfolgende „Hast du nicht“ – “Hab ich doch“-Dialog hätte den gesamten Weihnachtsabend füllen können – darum beschloss ich, ihn abzukürzen. Mein vorausgegangenes Bekenntnis brachte ich zu voller Reife, indem ich aus meinem Portemonnaie ein stanniolumwickeltes Kügelchen fingerte und entpackte. Drei Gramm grüner Libanese, beste Qualität, kamen zum Vorschein. „Das ist Hasch“, posaunte ich aus, inzwischen mit Spaß an der Provokation.

Meine Mutter nahm den „Bobbel“ mit spitzen Fingern entgegen, besah ihn sich und reichte ihn angewidert an ihren Gatten weiter. Der führte ihn zur Nase, beroch ihn, machte einen Gesichtsausdruck, als hätte er gerade ein Glas saure Milch eingeflößt bekommen. Nun trat meine Oma, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, auf den Plan. Und wie – denn was nun passierte, geschah so schnell, dass keiner der übrigen Anwesenden die Spur einer Chance hatte, einzugreifen.

Sie nahm das von ihrem Schwiegersohn dargebotene Kügelchen, führte es scheinbar zum Geruchstest in Richtung Nase, öffnete ihren Mund und ließ die Kugel hineinrollen. Im selben Moment krachte ihr Gebiss zusammen, mehrere Schluckbewegungen folgten. Dann herrschte Totenstille im Raum, die ein, zwei Atempausen später von einem Sechs-Wort-Dialog zwischen meiner Oma und mir unterbrochen wurde: „Schmeckt wie Scheiße!“ – „Heißt auch so!“

Als Nächstes fand meine Mutter die Sprache wieder, doch ihr „Aber Käthe, du kannst doch nicht ...“ wurde von dieser mit einem barschen „Ich glaube, ich bin alt genug, Carola!“ unterbrochen, flankiert von einem strengen Blick, der keinen Widerspruch zuließ.

In meiner ganzen Hilflosigkeit fühlte ich mich bemüßigt, zumindest verspätet darüber aufzuklären, dass man Dope rauchen und verbacken, notfalls sogar in Tee auflösen könne, aber nie an Stelle eines Pralinés einfach zerkauen und runterschlucken sollte. Doch, wie erwähnt, es war zu spät für diese Warnung. Nun hieß es auf die Wirkung warten.

Die blieb nicht aus. Käthe, die schwache Esserin, verputzte die Weihnachtsgans fast alleine, um anschließend in ein Dauergekichere zu verfallen, das ein pubertierendes Schulmädchen nicht hätte toppen können. Doch damit nicht genug: Meine Oma, seit jeher aufgrund „schlimmer Beine“ – so nannten wir es jedenfalls – kaum in der Lage, einen Fuß schmerzfrei vor den anderen zu setzen, wollte tanzen. Walzer tanzen! Widerworte zwecklos! Also musste eine Platte von Johann Strauß auf den Plattenteller und erst meine Mutter, dann ihr Mann und schließlich ich als Tanzpartner herhalten. Es war der letzte Walzer ihres Lebens. Und mein allererster.

MARCO CARINI