Von Platon zu Negri

FRANKFURTER POSITIONEN Die Philosophin Juliane Rebentisch verteidigt den Begriff der Demokratie

Die Offenheit für eine veränderbare Welt ist die Signatur der Freiheit des Subjekts in der Moderne

In der Vortragsreihe „Frankfurter Positionen“ im Institut für Sozialforschung referierte am Mittwoch die in Berlin lebende Philosophin Juliane Rebentisch über „Masse – Volk – Multitude“. Sie untersuchte die Geschichte der drei politischen Grundbegriffe und ihre demokratietheoretische Bedeutung. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist das Paradox, „dass die Demokratie aus strukturellen Gründen“ alle Normen in einer Sozialordnung zerstört, wenn man das Wort „Demokratie“ wörtlich nimmt: Wenn wirklich alle oder „die Masse“ herrschen, gibt es keine sozialen Normen mehr, sondern Chaos und Willkür.

Die Pointe des Vortags lag freilich nicht in einer Absage an die Möglichkeit von Demokratie, sondern in deren Verteidigung gegen ihre Verächter: „Eine demokratische Sozialordnung kann nur demokratisch genannt werden, wenn in ihr auch die Möglichkeit eingeräumt wird, sie infrage zu stellen.“ Veränderung und Verbesserung gehört zur Demokratie. Sie ist, um das Unwort des Jahres aufzunehmen, nichts alternativlos Gegebenes.

Der begriffsgeschichtliche Rückblick zeigt, dass Demokratie seit der Antike als Gegensatz zur Aristokratie gesehen wurde. Die Herrschaft der Vielen, des Volkes, der Masse stand gegen die Herrschaft der Wenigen, der Guten und der Besten. Für Platon war die Demokratie eine unmögliche Staatsform, weil sie über kurz oder lang von Verführern der Massen ausgehöhlt werde. Vermeintliche Volksherrschaft würde dadurch – so Platon – zum Spektakel und damit zu einer nur auf Massenbeifall erpichten Theaterherrschaft oder „Theatrokratie“, wie Nietzsche später sagen wird. Demokratie verwandelt sich so in Tyrannei, in der nicht Gesetz, sondern Willkür herrscht.

Platons Kritik an der Demokratie stützt sich auf ein Argument, das unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr haltbar ist. Den Demokraten fehle im Unterschied zu den Aristokraten das Wissen um „das wahrhaft Gute“ – so Platon. Das Wissen und auch das Wissen um das Gute ist nicht ein für allemal gegeben, sondern unterliegt historischer Veränderung. Auch die Wahrheit und das Gute bleiben für neue und andere Einsichten – für Veränderungen – offen. Die Offenheit für eine veränderliche und veränderbare Welt ist die Signatur der Freiheit und Autonomie des Subjekts in der Moderne.

Damit fällt auch die Macht der Autoritäten, die die Wahrheit und das Gute verwalteten wie die Priester die Religion, denn die Laien, d. h. die Subjekte, spielen und reden jetzt mit und müssen ihre Vorschläge wie ihre Urteile in der Öffentlichkeit – und durch diese – überprüfen lassen.

Die elitär-kulturpessimistischen Kritiker der Masse von Gustave Le Bon bis Ortega y Gasset und Elias Canetti berührte diese Einsicht in die moderne condition humaine nicht, denn sie gingen immer davon aus, dass die Masse die Einzelnen nur homogenisieren und deren Urteilsfähigkeit suspendieren könne. Die Masse kann zum Mittel der Gleichschaltung werden. Sie kann aber auch Vielfalt und Buntheit gewährleisten, zumal jede und jeder Teil mehrerer Massen sein kann.

Sowohl die politische Macht wie die Medienmacht, die beanspruchen, die schweigende Mehrheit oder die öffentliche Meinung zu vertreten, sind von der Masse abhängig – sei es als Wähler oder als Käufer. Damit werden Massen zu Faktoren im demokratischen Prozess – als Demonstrierende, Boykottierende oder sich resigniert Abwendende. Die sich so vielfältig artikulierende Masse versteht Demokratie nicht als Zustand, sondern als Prozess permanenter Veränderung und Selbstveränderung im Sinne des jüngst verstorbenen Claude Lefort.

Antonio Negri und Michael Hardt begriffen diese unübersichtlich heterogene und wandelbare Masse als „Multitude“, als Herrschaft einer Vielheit, die ohne Ort, Institutionen, Repräsentationen und Verfahren auskommt. Rebentisch verdeutlichte in ihrem gediegenen Vortrag, dass eine Demokratie keinen Katalog im „Reich der Möglichkeiten“ (Hardt/Negri) braucht, um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu garantieren, sondern klare Grenzen zwischen privat und öffentlich, Regeln, Verfahren und Institutionen.

Die „letzte Demokratie“ von Hardt/Negri ist eine letztlich eine demokratiewidrige, diffuse Utopie. Demokratien kennen jenseits von rechts- und sozialstaatlichen Minima sowie den Menschenrechten kein Absolutes. Die „absolute Demokratie“ ist nur jenseits solcher Minimalstandards und überhaupt jenseits von Raum, Zeit und Geschichte denk- und realisierbar. Die „Multitude“ von Hardt/Negri ist nur jenseits „der Bedingungen der Endlichkeit“, so Rebentisch, denkbar. Sie gleicht daher einer theologischen Improvisation. RUDOLF WALTHER